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Kernfusion – der Traum von einem endlosen Strom sauberer Energie


Am 5. Dezember 2022 haben Forschende in den USA laut Medienberichten einen historischen Durchbruch bei der Kernfusion erzielt. Erstmals ist es bei einem Experiment am Lawrence Livermore National Laboratory in Kalifornien gelungen, mehr Energie freizusetzen als hineingesteckt wurde. Die weltweit stärkste Laseranlage erhitzte eine winzige Menge Deuterium und Tritium auf über 100 Millionen Grad Celsius und erzeugte ein Plasma, in welchem die beiden Wasserstoff-Isotope zu Helium verschmolzen. Das Plasma erhielt durch die Laser eine Energiemenge von 2,05 Megajoule, während die Fusion 3,15 Megajoule erzeugte. Der Energiegewinn bezieht sich allerdings nur auf das Kernexperiment. Der gesamte Strombedarf des Versuchsreaktors ist immer noch viel grösser als die erzeugte Energie. Die 192 Laser benötigten allein 322 Megajoule Energie, um überhaupt Laserlicht zu erzeugen. Das Experiment ist ein Erfolg für die Wissenschaft, da damit endgültig bewiesen werden konnte, dass mit der Kernfusion Energie produziert werden kann. Bis kommerzielle Fusionsreaktoren Energie ins Stromnetz einspeisen werden, wird es allerdings noch viele Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern.

Mythen und Träume umgeben die Kernfusion
Seit der Antike träumt die Menschheit davon, wie Prometheus das Feuer der Sonne auf die Erde zu holen. Der alte Menschheitstraum von einer sicheren, sauberen und unerschöpflichen Energiequelle lebt heute in der Kernfusion weiter. Heute noch weckt die Kernfusion die Hoffnung, das globale Energieproblem in einigen Jahrzehnten für immer lösen zu können. Aus unbegrenzt verfügbaren, billigen Rohstoffen soll grenzenlos Energie erzeugt werden. Die Rohstoffknappheit als Ursache von Kriegen soll beseitigt und die Menschheit von Armut, Konflikten und Umweltverschmutzung befreit werden. Die Kernfusion soll sogar dazu beitragen, die Menschheit vor dem Aussterben zu retten.

Im Gegensatz zur Kernspaltung kann es bei der Kernfusion keine nukleare Kettenreaktion und damit auch keine Kernschmelze geben. Es fallen kaum radioaktive Abfälle an, die für lange Zeit sicher entsorgt werden müssen, und es wird auch kein klimaschädliches CO2 freigesetzt. Die Kernfusion verspricht, alle fossilen Energien zu ersetzen und das Problem der Umweltverschmutzung und der globalen Erwärmung zu beseitigen. Deuterium kommt im Wasser vor und ist daher auf unserem Planeten in den Weltmeeren beinahe unbegrenzt vorhanden. Das Lithium, aus welchem das Tritium erzeugt wird, kommt in der Natur etwas weniger häufig vor, die weltweiten Vorkommen würden aber auch hier für mehrere zehntausend Jahre zur Deckung des gesamten globalen Energiebedarfs ausreichen.

Beschäftigt man sich mit den Mythen und Träumen, welche die Kernfusion umgeben, dann wird augenfällig, was die Forschung trotz bedeutender Fortschritte bis heute alles noch nicht erreicht hat. Wie der Historiker Simon Märkl in seinem Buch Big Science Fiction gezeigt hat, haben die utopischen Zukunftsvisionen während dem Kalten Krieg auch in der amerikanischen Populärkultur ihren Niederschlag gefunden. Das Energieunternehmen General Electric hat beispielsweise im futuristischen Bau «Progressland» von Walt Disney auf der New Yorker Weltausstellung 1964/65 die Kernfusion als Energie der Zukunft inszeniert. Und in der Science-Fiction-Filmkomödie «Back to the Future» von 1985 wird die Zeitmaschine von Doc Brown durch den «Mr. Fusion Home Energy Reactor» angetrieben, der als Treibstoff Haushaltsabfälle verwendet.

Die erste wirklich grosse, von Menschen gemachte Kernfusion gelang am 1. November 1952 mit der Zündung der ersten amerikanischen Wasserstoffbombe «Mike». Die Explosion war so immens, dass die pazifische Insel Elugelab augenblicklich verdampfte. Nachdem die Kraft der Sonne in ihrer zerstörerischen Form auf der Erde entfesselt worden war, wollte man sie zähmen und auch für friedliche Zwecke nutzbar machen. Die Idee der Kernfusion als Energiequelle kam 1949 erstmals dem sowjetischen Physiker Oleg Lawrentjew. Sein Vorschlag eines Fusionsreaktors brachte Andrei Sacharow und Igor Tamm dazu, 1952 das Konzept des Tokamak zu entwickeln. Der torusförmige Fusionsreaktor, der auf der Methode des magnetischen Plasmaeinschlusses beruht, ist derjenige Reaktortyp, der bis heute am stärksten gefördert wird.

ITER – der grösste Fusionsreaktor der Welt
2005 beschlossen die EU, Indien, Japan, Südkorea, Russland, China und die USA, im südfranzosischen Cadarache den Forschungsreaktor ITER zu bauen. Das 22-Milliarden-Projekt ist eines der grössten Experimente der Menschheitsgeschichte. Der Forschungsreaktor, der ebenfalls auf dem Tokamak-Prinzip beruht, befindet sich seit 2013 im Bau. In einer zweiten Etappe soll dann der erste Prototyp eines kommerziellen Fusionsreaktors «DEMO» gebaut werden. Das Ziel ist, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein funktionierendes Fusionskraftwerk zu haben. Das Projekt war eine Idee von Michail Gorbatschow, die er 1985 beim Genfer Gipfeltreffen mit Ronald Reagan vorschlug, um die Beziehungen zwischen Ost und West zu verbessern. Heute ist ITER das weltweit grösste Energieforschungsprojekt.

Alle beteiligten Länder arbeiten zusammen, wollen aber auch für ihre eigenen Industrien profitieren. Gewisse Komponenten des Forschungsreaktors werden von mehreren Ländern gleichzeitig entwickelt. Die internationale Zusammenarbeit gleicht daher oft einem diplomatischen Eiertanz. Die Kosten haben sich seit Projektbeginn vervielfacht und es kam immer wieder zu Verzögerungen. Selbst während des Baus des Forschungsreaktors hat man das Design noch mehrfach geändert. ITER kann der Ausweg aus der weltweiten Energiekrise sein oder zu einem der teuersten Fehlschläge der Wissenschaft werden. ITER muss beweisen, dass ein Fusionsreaktor funktionieren kann. Wenn ITER keinen Erfolg hat, dann war’s das vermutlich mit der Fusion, sagen die Befürworter. Es sei wie beim Bau einer Kathedrale, es brauche mehrere Generationen, bis die Kathedrale steht.

Kritiker behaupten, die Kernfusion werde für immer eine Utopie bleiben. Die Kernfusion sei die Energieform der Zukunft – und werde es immer bleiben. Im Kampf gegen den Klimawandel komme die Kernfusion ohnehin zu spät und man würde das Geld heute besser in den Ausbau der erneuerbaren Energien investieren. In den nächsten 20 Jahren kann die Kernfusion keinen Beitrag zur CO2-Reduktion leisten. Die Befürworter sehen in der Kernfusion künftig eine ideale Ergänzung zu den heute bereits bestehenden Technologien. «Die wenigen, vielversprechenden Optionen, die wir haben, sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden», sagt beispielsweise Christian Theiler, Professor für Plasmaphysik an der EPFL Lausanne. Es brauche heute sowohl die Grundlagenforschung als auch den Ausbau der erneuerbaren Energien sowie Brückentechnologien, wie die auf der Kernspaltung beruhende Kernenergie.

 

Wie funktioniert die Kernfusion?
Die Kernfusion ist für die Energieproduktion im Innern der Sonne und aller leuchtenden Sterne verantwortlich. Bei der Verschmelzung leichter Atomkerne wird eine grosse Menge von Energie freigesetzt. Bei der Kernfusion, wie sie in zukünftigen Fusionskraftwerken genutzt werden soll, verschmelzen die Kerne der schweren Wasserstoff-Isotope Deuterium und Tritium unter Freisetzung eines Neutrons und von Energie zu einem Heliumkern. Es braucht enorm viel Energie, damit die Atomkerne miteinander verschmelzen, da sie elektrisch geladen sind und sich gegenseitig abstossen. Die Wasserstoff-Isotope Deuterium und Tritium müssen so stark erhitzt und damit ihre Bewegungsenergie gesteigert werden, dass sie die elektrostatische Barriere des Atomkerns durchbrechen können und zu Helium verschmelzen. Deuterium ist in dem in der Natur vorkommenden Wasserstoff enthalten. Tritium hingegen kommt in der Natur kaum vor und muss künstlich in einem Reaktor erzeugt werden. Dabei wird das Lithium-Isotop Li-6 mit Neutronen bestrahlt. In einem Fusionsreaktor wird die thermonukleare Reaktion kontrolliert zur Stromerzeugung genutzt.

Anders als in einer Wasserstoffbombe, wo die Fusion unkontrolliert abläuft, sind im Reaktor zu jedem Zeitpunkt nur sehr kleine Mengen an Brennstoff vorhanden. Die Fusionsforschung konzentriert sich heute hauptsächlich auf den Tokamak und den Stellarator. Beide Reaktortypen beruhen auf der Technik des magnetischen Einschlusses. Das Plasma wird dabei in einem magnetischen Feld eingeschlossen. Die Erhitzung des Plasmas erfolgt durch elektromagnetische Wellen im Spektrum von Radio- und Mikrowellen sowie durch Neutralteilcheninjektion, bei welcher ein Strahl ungeladener Teilchen mit hoher Energie ins Plasma geschossen wird. Bei der Trägheitsfusion wird die Fusion des Deuteriums und Tritiums zu Helium hingegen durch den Beschuss mit Laserstrahlen erreicht. Die durch die Kernfusion freigesetzte Energie in Form von Wärme kann im Fusionsreaktor durch Turbinen und Generatoren in Strom umgewandelt werden.

 

Manche Forscherinnen und Forscher versichern, der Schlüssel zum Erfolg liege einzig und allein darin, mehr Geld in die Fusionsforschung zu stecken, um schnellere Fortschritte zu erzielen. Man müsse heute in viele verschiedene Projekte investieren und jede neue Idee in Betracht ziehen. Weltweit arbeiten heute zahlreiche Start-Ups an Prototypen von Fusionsreaktoren. Alle paar Monate hört man, dass dieses oder jenes Unternehmen gerade einen Durchbruch erzielt haben soll. Viele vollmundige Versprechungen dieser privaten Start-Ups sind aber nicht realistisch. Sie sind vor allem gutes Marketing, damit deren Geldgeber nicht abspringen. Einige private Initiativen wie beispielsweise das Commonwealth Fusion Systems, ein Spin-off des Massachusetts Institute of Technology (MIT), mit ihrem Konzept eines kompakten hoch-Feld Tokamaks sind aber durchaus vielversprechend.

Auf dem Weg zu einem Fusionskraftwerk müssen jedenfalls noch einige harte Nüsse geknackt werden. Um eine effiziente Energiegewinnung zu ermöglichen, muss das thermonukleare Feuer länger brennen und unter Kontrolle gehalten werden. Das über 100 Millionen Grad Celsius heisse Plasma muss effizient eingeschlossen und stabilisiert werden. Oder wie es der Plasmaforscher Eric Lerner im Dokumentarfilm Kernfusion – Der Traum von der Sonnenenergie sagt: «Das Plasma soll sozusagen stillsitzen wie ein braver Hund. Das Problem ist nur, dass das Plasma nicht stillsitzen will.» Einige der leistungsstärksten Supercomputer der Welt berechnen heute für die Forschungslaboratorien das Verhalten des Plasmas. Mathematische Modelle sollen die hochkomplexen physikalischen Prozesse im Plasma abbilden. Die Modelle müssen dabei immer wieder in Experimenten auf ihre Zuverlässigkeit überprüft werden.

Für den magnetischen Einschluss müssen grosse supraleitende Magnetspulen konstruiert werden. Im Reaktor muss genügend Tritium mithilfe von Neutronen aus den Fusionsreaktionen erzeugt werden und das von aussen ins Plasma injizierte Tritium muss möglichst effizient verbrannt werden. Die Wände der Vakuum-Kammer müssen extrem hohe Temperatur aushalten können und die Interaktionen des Plasmas mit den Wänden müssen möglichst reduziert werden, damit der Reaktor während dem Betrieb nicht beschädigt oder zerstört wird. Noch gelingt die Kernfusion nur für eine sehr kurze Zeit. Für die Rentabilität eines Reaktors muss die Energieeinschlusszeit erhöht werden. Die Energieeinschlusszeit eines Plasmas nimmt mit seiner Grösse zu. Darum braucht es auch die ganz grossen Experimente wie ITER. Der Reaktor soll dereinst für eine Zeitspanne von einigen Minuten eine Fusionsleistung von 500 Megawatt liefern, bei einer injizierten Leistung von 50 Megawatt.

Swiss Plasma Center an der EPFL Lausanne
Seit der Gründung des heutigen Swiss Plasma Center in den 1960er-Jahren engagiert sich die Schweiz stark für die Kernfusion. Das Swiss Plasma Center an der EPFL Lausanne ist heute eines der weltweit führenden Fusionsforschungslabors. Seit 1979 arbeitete die Schweiz mit der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) zusammen und war von 2004 bis 2020 an deren Forschung- und Ausbildungsprogramm im Bereich der Kernfusion assoziiert. Als Mitglied des europäischen Unternehmens Fusion for Energy war die Schweiz von 2007 bis 2020 am Bau von ITER beteiligt und zahlte dafür im selben Zeitraum 274,5 Millionen Franken an die EU. Gleichzeitig hat ITER für Schweizer Unternehmen von 2007 bis 2019 zu Aufträgen in Höhe von 190 Millionen Franken geführt. Die Schweiz hat beim ITER-Projekt früh zentrale Aufgaben übernommen. So wurden beispielsweise alle supraleitenden Komponenten der Magneten vom Swiss Plasma Center am Paul-Scherrer-Institut (PSI) in Villigen getestet.

Nach dem Scheitern des Rahmenabkommens wurde die Schweiz zum nicht-assoziierten Drittstaat bei Horizon Europe und damit auch beim Forschungs- und Ausbildungsprogramm der Euroatom. Ihre Teilnahme am ITER-Projekt und an den operativen Tätigkeiten von Fusion for Energy wurden ausgesetzt. Der Ausschluss der Schweiz vom ITER-Projekt ist für das Swiss Plasma Center schwierig. Die internationale Kooperation ist gerade im Bereich der Fusionsforschung entscheidend. Ohne eine formelle Beteiligung an ITER können die Schweizer Forschenden keinen Einfluss mehr auf die Weiterentwicklung des Projekts nehmen. Die uneingeschränkte Teilnahme des Swiss Plasma Center am ITER-Projekt ist auch im Interesse der europäischen Forschungsgemeinschaft. Zudem dürfen Schweizer Industriefirmen sich nicht mehr an Ausschreibungen zur Lieferung von Komponenten und Dienstleistungen im Zusammenhang mit ITER beteiligen.

Um die Zusammenarbeit des Swiss Plasma Centers mit der europäischen Fusionsforschung weiterhin sicherzustellen, konnte zumindest auf operationeller Ebene zwischen der EPFL Lausanne und Fusion for Energy ein Abkommen abgeschlossen werden. Das Swiss Plasma Center kann zudem als assoziierter Partner des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik in Garching bei München, welches das Konsortium der europäischen Laboratorien der Fusionsforschung (EUROfusion) koordiniert, weiter am Forschungs- und Ausbildungsprogramm der Euratom teilnehmen. Die Finanzierung der Schweizer Fusionsforschung im Zusammenhang mit dem Euratom-Programm und der institutionellen Zusammenarbeit mit Fusion for Energy wird heute vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) im Rahmen seiner Übergangsmassnahmen zu Horizon Europe sichergestellt.

Der Versuchsreaktor TCV Tokamak des Swiss Plasma Center ist eine der wichtigsten Fusionsforschungsanlagen in Europa, mit welchem die Physik der Kernfusion durch magnetischen Einschluss weiter erforscht werden kann. Das Swiss Plasma Center trägt dazu bei, die wissenschaftliche und technologische Machbarkeit der kontrollierten Kernfusion auf der Erde zu demonstrieren und damit zu zeigen, dass die Kernfusion künftig auch kommerziell genutzt werden kann. Das Swiss Plasma Center hat heute rund 120 Mitarbeitende und mehr als 40 Doktorierende. In der Plasma-Theorie und Simulation, bei der Supraleitung, der Plasmaphysik und der Optimierung des Tokamak-Konzepts leistet das Swiss Plasma Center wichtige Beiträge zur internationalen Fusionsforschung.

Innenraum des TCV Tokamak am Swiss Plasma Center an der EPFL Lausanne

Heute erscheint die Energieerzeugung aus der Kernfusion noch als ferner Traum, aber in einigen Jahrzehnten wird die Menschheit möglicherweise dankbar sein, eine Technologie nutzen zu können, die zuverlässig sichere und CO2-freie Energie produziert. Oder wie es der NZZ-Journalist Andreas Hirstein formuliert hat: «Vielleicht werden unsere Ururenkel im Jahr 2100 einmal über ihre Vorfahren staunen, die so weitsichtig waren, 100 Jahre lang in eine Technik zu investieren, deren Realisierung als unmöglich galt und die doch vorangetrieben wurde, weil ihre Vorteile so gewaltig sind.»

Michael Fischer, Historiker und Fachspezialist Bundesrats- und Parlamentsgeschäfte beim Bundesamt für Energie
Bilder: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0.

 

 

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