, ,

Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 9: Partizipation im Sachplanverfahren (Überblick)


«Ob in der Schweiz in der Entsorgungsfrage radioaktiver Abfälle […] faire, gerechte und ausgewogene Partizipation zur Anwendung gelangen [wird], wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Inwiefern alle Akteure dazu bereit sind, aufeinander zuzugehen, einander zuzuhören und die unterschiedlichen Wertmassstäbe und Risikowahrnehmungen zu akzeptieren, wird sich zeigen.» So folgerte das BFE in einer breit angelegten Studie 2006. Darin untersucht wurden bereits gemachte Erfahrungen mit partizipativen Verfahren in der Entsorgungspolitik im In- und Ausland und formulierte Grundsätze für die Öffentlichkeitsbeteiligung im Sachplanverfahren. Deshalb ist die Frage berechtigt: Konnten diese hohen Ansprüchen in der Realität umgesetzt werden?

Die im Folgenden präsentierten Ergebnisse stammen aus einer Studie von 2018 und untersuchten die Partizipation in Etappe 2 (2011 – 2018) der Standortsuche für geologische Tiefenlager in der Schweiz. Die Anforderungen an gute Partizipation gelten selbstverständlich weiterhin und die Partizipation wird weiterhin ähnlich praktiziert wie schon 2018.

  1. Frühzeitiger Einbezug von Stakeholdern

Nicht «von oben herab» bestimmen, wie die Mitwirkung in einem Projekt umgesetzt werden soll, sondern zusammen mit den Betroffenen. Dies ist ein wichtiger Grundsatz erfolgreicher Beteiligung. Deshalb gründete das BFE kurz nach dem Vorschlag der Nagra zu Etappe 1 so genannte «Startteams». Vertretungen von Gemeinden sowie Partizipations-Fachleute legten zwischen 2009 und 2011 die Grundsteine der regionalen Partizipation. «Dieser Zeitpunkt war richtig.» folgert Ueli Müller, Präsident der mittlerweile aufgelösten Regionalkonferenz Jura Ost, «Denn noch zu einem früheren Zeitpunkt hätte man ja die ganze Schweiz miteinbeziehen müssen.»

  1. Einbezug vielfältiger Interessen

Die Frage danach, wer als betroffen betrachtete Person einbezogen werden muss, ist entscheidend. Es sollen bei einem solchen Projekt möglichst alle Gesellschaftsschichten mitwirken. Vom Bau des Lagers werden nicht die heutigen Entscheidungsträger/innen betroffen sein. Deshalb versuchten die Startteams, auch Jugendliche für die Regionalkonferenz zu gewinnen. Waren sie darin erfolgreich? «Nein», war die schlichte Antwort von Hanspeter Lienhart, früherer Präsident der Regionalkonferenz Nördlich Lägern, auf die Frage, ob sich Jugendliche für einen speziell für sie gedachten Anlass interessierten. «Während die politischen Interessen vielfältig vertreten waren, waren Frauen und Jugendliche in der Minderheit.», resümierte er weiter. In allen sechs ursprünglichen Konferenzen war der Frauenanteil kaum je weit über 20% und die deutliche Mehrheit der Mitglieder waren über 40 Jahre alt.

  1. Klarheit über Aufgaben und Möglichkeiten der Partizipation

Ebenso wichtig für gelingende Partizipation ist Klarheit über den Gegenstand der Beteiligung, Möglichkeiten und Grenzen. Dies muss vorgängig bestimmt werden. Andernfalls wäre der Vorwurf einer «Alibi»-Partizipation berechtigt. BFE und Regionalkonferenzen vereinbaren deshalb jährlich Meilensteine. Deren Spannweite reicht von Information zu einem Thema, über das Verfassen von Stellungnahmen bis zur Teilnahme in übergeordneten Gremien. Dazu der ehemalige Präsident der aufgelösten Regionalkonferenz Zürich Nordost, Jürg Grau: «Die Aufgaben der Regionalkonferenzen waren zu Beginn nicht klar gewesen, sie wurden mit der Zeit aber verständlicher. Auch dank dem Einfluss, den wir in der Diskussion mit dem BFE ausübten.»

  1. Faire Regeln schaffen

Klare Spielregeln sind wichtig, wenn Menschen mit unterschiedlichen Werten zusammenkommen, um gemeinsam Positionen und Ideen zu entwickeln. Die Mitglieder der Regionalkonferenzen haben deshalb an ihren Gründungsversammlungen Prinzipien vereinbart, die für die Zusammenarbeit gelten sollen. Zum Beispiel sollen sich die Mitglieder mit Achtung und Toleranz begegnen und unterschiedliche Meinungen zulassen. Peter Hodel, ehemaliger Präsident der Plattform Jura-Südfuss dazu: «Die Voten an den Vollversammlungen waren mehrheitlich sachlich und korrekt gewesen – auch von Gegnerorganisationen.»

  1. Ausreichende Ressourcen

Die Aufwendungen der Regionalkonferenzen und deren Mitglieder (unter anderem Sitzungsgelder oder Finanzierung eigener Fachpersonen) wurden mittels Leistungsvereinbarungen mit dem BFE entschädigt. Einige erachteten die Entschädigungen als zu hoch («Ich habe mir mit den Sitzungsgeldern eine neue Skiausrüstung zulegen können, dafür danke ich der Atomindustrie!»), Anderen waren sie zu tief («Die Entschädigungslösung ist für willige, pflichtbewusste und tüchtige Akten-Verarbeiter eher dürftig.»). In der Mehrheit wurden die zur Verfügung gestellten zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen als genügend betrachtet.

  1. Förderung der Sachkompetenz und Möglichkeiten zur Meinungsbildung

Mitwirkende müssen sachverständig sein, um mit Fachleuten auf Augenhöhe diskutieren zu können. Das BFE stellte dafür von Beginn an Angebote zur Weiterbildung zur Verfügung. Seit 2011 sind rund 80 Anlässe durchgeführt worden wie Exkursionen ins Felslabor Mont Terri, ins Zwilag oder sogar ins Ausland, z. B. ins französische Centre de l’Aube. Spezifische Veranstaltungen zu den Kosten der Entsorgung oder zu Radioaktivität und Strahlenschutz ergänzten das Angebot. Ein Mitglied einer Regionalkonferenz meinte zu solchen Weiterbildungsmöglichkeiten: «Wir haben vom BFE ein Budget bekommen, welches uns erlaubte, externe Experten zu Vorträgen und Diskussionen einzuladen. Wir konnten als Laien ‘dumme’ Fragen stellen, ohne belächelt zu werden, man begann uns ernst zu nehmen.»

Konnten nun die Ansprüche an «gute Partizipation» erfüllt werden? Einige sicherlich (z. B. Ressourcen und Aufbau von Sachkompetenz), andere nicht (z. B. ausgewogene Vertretung aller Gesellschaftsschichten und Klarheit über Aufgaben). Die Universität Bern bewertete in einer Studie von 2018 (siehe Blog) die im Sachplanverfahren gelebte Partizipation insgesamt als gut. Sie sei indes mit denselben Herausforderungen konfrontiert wie andere Beteiligungsarten.

Einige Zahlen zur Regionalen Partizipation in Etappe 2 (2010-18)

 

Aktive Mitwirkende in den 6 Regionalkonferenzen (RK):550
Beteiligte Gebietskörperschaften:7 Schweizer Kantone

3 deutsche Landkreise

In den RK vertretene Gemeinden:ca. 200
Repräsentierte Bevölkerung:ca. 710’000
Anzahl durchgeführte Sitzungen:ca. 730
Gesamtkosten:21 Millionen Franken

 

Stefan Jordi, Leiter Dienst Regionale Partizipation, BFE
Bild: Die damalige UVEK-Vorsteherin Doris Leuthard (M. l.) mit den Präsidenten und Geschäftsstellenleitenden der Regionalkonferenzen. /BFE

 In der Schweiz ist gesetzlich vorgeschrieben, dass die Abfälle langfristig sicher in geologische Tiefenlager verbracht werden. Das Standortsuchverfahren dafür läuft seit 2008 gemäss dem Sachplan geologische Tiefenlager. Damit wird der Einbezug der betroffenen Kantone, Gemeinden und Bevölkerung sichergestellt. Geleitet wird dieses Verfahren durch das Bundesamt für Energie.

Nach heutiger Planung soll die Standortwahl 2031 mit der Genehmigung der Rahmenbewilligungen für das geologische Tiefenlager und die Brennelementverpackungsanlage abgeschlossen sein. Auch diese beiden Verfahren leitet das Bundesamt für Energie.

Bisher sind in dieser Blogserie zur Entsorgung der radioaktiven Abfälle erschienen:
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 1: 1900 – 1980 | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 2: bis 2008 | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 3: Menge und Arten der Abfälle | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 4: Ausweg aus der Sackgasse | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 5: Das Entsorgungsprogramm | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 6: Der Konzeptteil zum Sachplan geologische Tiefenlager | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 7: Sachplan geologische Tiefenlager, Etappe 1 | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 8: Sachplan geologische Tiefenlager, Etappe 2 | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie

1 Stern2 Sterne3 Sterne4 Sterne5 Sterne Noch keine Bewertungen
Loading...