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Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 3: Menge und Arten der Abfälle


Das Gesetz schreibt die Entsorgung der radioaktiven Abfälle der Schweiz in geologischen Tiefenlagern vor. Doch reicht – wie von der Nagra im September 2022 vorgeschlagen – ein einziges Kombilager für die radioaktiven Abfälle aus, die in der Schweiz bereits angefallen sind und in den kommenden Jahren noch dazukommen? Wie gross ist die Menge der Abfälle überhaupt, die eingelagert werden muss? Antworten auf diese Fragen gibt der 3. Teil der energeiaplus-Serie zum Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz.

Entsorgungspfade

In ein geologisches Tiefenlager kommen – vielleicht entgegen der intuitiven Annahme – nicht sämtliche radioaktiven Abfälle der Schweiz. Gesetzlich vorgesehen sind nebst der Tiefenlagerung auch die Abklinglagerung, die kontrollierte Abgabe an die Umwelt oder die Verbrennung oder Deponierung auf konventionellem Weg für sehr kurzlebige oder schwachaktive Abfälle (s. Abbildung 1). Bis in die 1980er Jahre wurden rund 5000 Tonnen an schwachaktiven Abfällen aus der Schweiz im Atlantik versenkt (siehe Artikel 1 dieser Blog-Serie).

Abbildung 1: Entsorgungspfade der radioaktiven Abfälle in der Schweiz. Quelle: BAG

Menge und zeitliche Entwicklung

Die Gesamtmenge der Abfälle für die geologische Tiefenlagerung beinhaltet alle Abfälle, die sich heute bereits in den Zwischenlagern befinden. Die Menge dieser Abfälle ist genau bekannt. Weiter kommen noch die Abfälle hinzu, die künftig entstehen werden. Diese Menge hängt von verschiedenen Faktoren und Annahmen ab, die sich noch verändern können: effektive Laufzeit der Kernkraftwerke, technische Entwicklung in den Prozessen, bei denen die Abfälle entstehen, oder Anwendungsmöglichkeiten in den Bereichen Medizin, Industrie und Forschung. Die Menge der bestehenden und der zukünftigen Abfälle bildet zusammen das «modellhafte Inventar der radioaktiven Abfälle (MIRAM)», welches von der Nagra bestimmt und regelmässig nachgeführt wird. Das MIRAM in seiner jeweils aktuellen Form bildet eine Planungsgrundlage für die Projektierung der geologischen Tiefenlager.

In Abbildung 2 wird die beobachtete und erwartete zeitliche Entwicklung der Menge der radioaktiven Abfälle aufgezeigt. Ausschlaggebend für die Bestimmung der notwendigen Grösse des Tiefenlagers ist das Volumen der Abfälle, in der Form, wie sie dereinst ins Tiefenlager verbracht werden müssen, damit Mensch und Umwelt geschützt bleiben. Dafür müssen die Abfälle entsprechend vorbehandelt und in Endlagerbehälter verpackt werden. Das Modell nimmt für die Kernkraftwerke Beznau, Leibstadt und Gösgen je eine Laufzeit von 60 Jahren an, für das sich bereits im Stilllegungsprozess befindliche Kernkraftwerk Mühleberg sind die effektiven 47 Jahre Leistungsbetrieb berücksichtigt. Für die Abfälle aus Medizin, Industrie und Forschung wird eine Sammelperiode bis 2064 angenommen. Gemäss diesem Modell werden insgesamt 82’534 m3 an verpackten radioaktiven Abfällen zur Einlagerung in die geologischen Tiefenlager anfallen.

Abbildung 2: Zeitlicher Anfall der in Endlagerbehälter verpackten radioaktiven Abfälle in der Schweiz in m3 für die bestehenden Kernkraftwerke (KKW) für 60 Jahre Betrieb sowie 47 Jahre für das Kernkraftwerk Mühleberg. Für die Abfälle aus dem Bereich Medizin, Industrie und Forschung (MIF) wird eine Sammelperiode bis Ende 2064 angenommen. BA: Betriebsabfälle, RA: Reaktorabfälle, SA: Stilllegungsabfälle, BE: Brennelemente, WA: Abfälle aus Wiederaufarbeitung, OFA: Abfälle aus den Oberflächenanlagen der geologischen Tiefenlager.

Aus: Entsorgungsprogramm 2021 der Entsorgungspflichtigen; NTB 21-01, Nagra, 2021.

Der grösste Teil der Abfälle (80% des verpackten Gesamtvolumens), die im geologischen Tiefenlager entsorgt werden sollen, stammt aus den Kernkraftwerken. Die abgebrannten Brennelemente machen rund 11% aus, die Abfälle aus der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente ca. 1%, die Abfälle aus den Reaktoren rund 2%, ca. 36% stammen aus dem Betrieb und rund 30% aus der Stilllegung der Kernkraftwerke. Hinzu kommen noch die Abfälle aus Medizin, Industrie und Forschung (19%) und solche aus dem künftigen Betrieb der Tiefenlager selbst (1%). Die Grafik zeigt auch, dass bis heute erst knapp die Hälfte der erwarteten Abfallmenge angefallen ist, hauptsächlich weil die Kernkraftwerke Beznau, Gösgen und Leibstadt noch in Betrieb sind. Vor allem die grosse Masse der Stilllegungsabfälle aus den Kernkraftwerken wird erst in Zukunft anfallen. Zum Vergleich: Das prognostizierte Volumen von 82’534 m3 entspricht ungefähr dem Inhalt von 33 olympiatauglichen 50m-Schwimmbecken. Oder: Verteilt auf rund 2500 Seefracht-Container würde dieses Volumen etwa einen Zehntel der Ladekapazität des aktuell grössten Hochsee-Containerschiffes ausfüllen.

Vergleich radioaktive und konventionelle Abfälle

In der Schweiz fallen gemäss der Abfallstatistik des Bundesamts für Umwelt BAFU pro Jahr rund 90 Millionen Tonnen an (nicht radioaktiven) Abfällen an. Über 60% davon sind Aushub- und Ausbruchmaterialien, die zu einem Grossteil wiederverwertet werden können. Die jährliche Menge an Siedlungsabfällen beträgt ca. 6 Millionen Tonnen. Als Sonderabfälle, d.h. Abfälle, deren umweltverträgliche Entsorgung auf Grund ihrer Zusammensetzung, ihrer chemisch-physikalischen oder ihrer biologischen Eigenschaften besondere technische und organisatorische Massnahmen erfordern, wurden im Jahr 2021 in der Schweiz rund 1.4 Millionen Tonnen entsorgt. Davon wurden rund 150’000 Tonnen in oberflächlichen oder unterirdischen Deponien eingelagert. Diese Menge ist in ihrer Grössenordnung vergleichbar mit der Masse der radioaktiven Abfälle, die dereinst einmalig der geologischen Tiefenlagerung zugeführt werden sollen. Gemäss dem aktuellen MIRAM beträgt die Masse der radioaktiven Abfälle (unverpackt) rund 120’000 Tonnen.

Interessant ist auch, wie die Radioaktivität innerhalb dieser Abfälle verteilt ist. Die hochaktiven Abfälle machen 11% des verpackten Gesamtabfallvolumens aus, die restlichen 89% bilden die schwach- und mittelaktiven Abfälle. Die Gesamtaktivität aller Abfälle wird im Referenzjahr 2075, wenn die Einlagerung voraussichtlich abgeschlossen sein wird, gemäss dem aktuellen MIRAM (Nagra NTB 22-05, 2023) 1.9·1019 Becquerel entsprechen, d. h. es finden im gesamten Material pro Sekunde 19 Trillionen Kernzerfälle statt. Mehr als 99% dieser Radioaktivität geht dabei alleine auf die hochaktiven Abfälle zurück. Oder anders gesagt: Ein Grossteil der Strahlung geht von einer anteilsmässig relativ geringen Materialmenge aus. Aus diesem Grund werden für die Abfallkategorien der hochaktiven einerseits und der schwach- und mittelaktiven Abfälle andererseits unterschiedliche Realisierungskonzepte der Tiefenlagerung umgesetzt, die den Anforderungen an die Eigenschaften dieser Abfallarten gerecht werden. Auch falls die Schweiz das vorgeschlagene Kombilager dereinst gutheisst, werden technisch gesehen am selben Standort zwei Tiefenlager realisiert werden, die beide den gleichen Zugangspunkt an der Oberfläche und eine gemeinsame Versorgungsinfrastruktur haben.

Lagerkapazität

Nach ihrem Standortvorschlag im September 2022 erarbeitet die Nagra aktuell ihr Gesuch für eine Rahmenbewilligung für ein Kombilager in Nördlich Lägern. Mit dem Erteilen der Rahmenbewilligung für ein geologisches Tiefenlager wird der Bundesrat eine maximale Lagerkapazität festlegen. Die Gesuchsteller für ein geologisches Tiefenlager müssen daher im Gesuch Angaben zur maximal benötigten Lagerkapazität zu machen. Diese werden vom Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI geprüft. Die mit der Rahmenbewilligung festzulegende maximale Lagerkapazität soll so bemessen sein, dass ausreichend Planungsreserven für Abweichungen zu den heute erwarteten Abfallmengen berücksichtigt sind. Gleichzeitig muss am bezeichneten Standort ausreichend Platz im Untergrund vorhanden sein. Die Sicherheit für Bau und Betrieb, wie auch die Langzeitsicherheit für das Tiefenlager muss nachgewiesen werden.

Philippe Schaub, Fachspezialist Entsorgung radioaktive Abfälle, Bundesamt für Energie
Bild: Zwischenlager Würenlingen; (KEYSTONE/Gaetan Bally)

In der Schweiz ist vorgeschrieben, dass die Abfälle langfristig sicher in geologische Tiefenlager verbracht werden. Das Standortsuchverfahren dafür läuft seit 2008 nach einem Sachplan. Vorgesehen ist, dass die Standortwahl 2031 abgeschlossen sein wird.

Das Bundesamt für Energie leitet dieses Verfahren unter dem Titel «Sachplan geologisches Tiefenlager». Es beinhaltet eine breite Beteiligung von Kanton, Gemeinden und Bevölkerung.

 Bisher sind erschienen:

Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 1: 1900 – 1980 | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie

Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 2: bis 2008 | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie

 

 

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