90 Jahre im Dienst der Energieversorgung der Schweiz
Am 1. Oktober 2020 wurde das Bundesamt für Energie 90 Jahre alt. Im dritten und letzten Teil unserer Blogserie gehen wir auf eine rasante Zeitreise durch neun bewegte Energie-Jahrzehnte und die grossen Themen, mit denen sich die fünf Direktoren in ihrer jeweiligen Amtszeit beschäftigen mussten.
Eidgenössisches Amt für Elektrizitätswirtschaft 1930 bis 1960: Ausbau der Wasserkraft, Anfänge der Atomwirtschaft
Zum ersten Direktor wählte der Bundesrat den erst 36-jährigen ETH-Ingenieur Florian Lusser, einen Mann aus der Elektrizitätswirtschaft. Die Wahl viel angeblich auf ihn, weil der Bundesrat jemanden wollte, der möglichst «nichts tut», wie der ehemalige Direktor Eduard Kiener im zweiten Teil dieses Blogs, einem Podiumsgespräch zum 90. Geburtstag des BFE (Link), anmerkte. Kein Wunder, da der Bundesrat das Amt für Elektrizitätswirtschaft ja erst gar nicht wollte und es erst auf politischen Druck hin einrichtete (dazu auch der erste Teil dieser Blogserie).
Statistiken und Ausfuhrbewilligungen
Technisch nüchtern und wenig politisch waren denn auch die Aufgaben des Amtes ausgestaltet, wie in der NZZ vom Dezember 1960, zum altersbedingten Rücktritt von Florian Lusser, nachzulesen war:
Ausbau der Wasserkraft und Stromexporte im zweiten Weltkrieg
Lussers 30-jährige Amtszeit war vor allem durch den massiven Ausbau der einheimischen Wasserkraft geprägt. So gab es zwischen Anfang der 1930er-Jahre bis zum Ende des zweiten Weltkriegs fast eine Verdoppelung der Stromproduktion. Während des zweiten Weltkriegs leitet Lusser die Sektion Elektrizität im Kriegs-, Industrie- und Arbeitsamt. Rückblickend erstaunt, dass die Schweiz in dieser Zeit sehr viel Strom nach Deutschland lieferte. 1940 lagen diese Exporte bei rund einer Milliarde Kilowattstunden. Unter anderem sollten diese Stromlieferungen im Rahmen eines Deals die deutschen Kohlelieferungen in die Schweiz sicherstellen. Mehr zu diesem Thema liefert der Artikel «Schweizer Elektrizität und das Dritte Reich» im Bulletin SEV/VSE von 2001.
Um die Atomenergie kümmert sich das Militärdepartement
In die Amtszeit von Lusser, jedoch nicht in seine Kompetenz, fielen auch die Anfänge der Atomenergieforschung und -wirtschaft in der Schweiz. Zunächst übernahm das Militärdepartement das Zepter: 1945 setzte es die Studienkommission für Atomenergie (SKA) ein, um die «Forschung auf diesem Gebiet zu koordinieren und auszubauen».
Atomenergie zwingt den Bundesrat zu handeln
Im Januar 1946 kommentiert ein aus heutiger Sicht recht amüsant zu lesender Artikel in der Zeitung Aktiv (Link) die Einsetzung der SKA so: «Es ist selten der Fall, dass der hohe Schweizerische Bundesrat durch eine Entdeckung oder Erfindung gewissermassen gezwungen wird, eine Studienkommission für die Prüfung der Sache und die weitere Verfolgung der Entwicklung einzusetzen, wie dies gerade bei der Frage der Atomenergie der Fall war.»
Wie der Bund zu einem Institut für Reaktorforschung kam
Bald interessierten sich auch die grossen Schweizer Industrieunternehmen für die neue Technologie. 1952 begann die SKA zusammen mit Unternehmen wie Brown, Boveri & Cie., Sulzer und Escher Wyss einen schweizerischen Versuchsreaktor zu planen. 1955 wurde dazu in Würenlingen die Reaktor AG gegründet. Ein Artikel in der Roten Revue von 1956 (Link) beschreibt die Reaktor AG als «gemischtwirtschaftliche Unternehmung», deren «Teilhaber der Bund und die Kraftwerke, weiter die Maschinenindustrie und die elektrische Apparateindustrie, die chemische Industrie, die Banken und Trustgesellschaften und – last, but not least – die Gewerkschaften sind. Das Gründungskapital beträgt 20 Millionen Franken.» Die Reaktor AG würde übrigens wenige Jahre später, im März 1960 (Link), vollständig vom Bund übernommen und zum Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung umgewandelt. 1988 fusionierte dieses zusammen mit dem Schweizerischen Institut für Nuklearforschung zum heutigen Paul Scherrer Institut (PSI).
Atomenergie ist nicht Sache des Amts für Elektrizitätswirtschaft
Aus all diesen Entwicklungen hielt der Bundesrat das Eidgenössische Amt für Elektrizitätswirtschaft vorerst heraus. Stattdessen setzte er einen Delegierten für Atomenergie ein. Der damalige Delegierte, Otto Zipfel, verkündete in der Zeitung Die Tat im Januar 1956 (Link) ziemlich klar, was der Plan ist: «Die Schweiz muss 1965 ihr Atomkraftwerk haben.»
Auch längerfristig sah der Bundesrat das Amt für Elektrizitätswirtschaft nicht im Lead. So beschloss er im Dezember 1958, «die Bildung eines dem Post- und Eisenbahndepartement anzuschliessenden Amtes für Atomenergie vorzubereiten. In der gegenwärtigen Entwicklungsphase hält er es indessen für zweckmässig, die Geschäfte einstweilen weiterhin einem Delegierten zu übertragen.» (Link).
Eidgenössisches Amt für Energiewirtschaft 1961 bis 1977: Die ersten Atomkraftwerke in der Schweiz, Ölkrise, Gesamtenergiekonzeption, Anti-Atombewegung
Hans Rudolf Siegrist wurde der zweite Direktor des Amts für Elektrizitätswirtschaft. Der Bundesrat wählte den damals 47-jährigen Siegrist Ende 1960 ins Amt, bei einem Jahreslohn von 31’500 Franken.
Siegrist war im Gegensatz zum ersten Direktor Lusser kein Mann aus der Wirtschaft, konnte dafür eine erfolgreiche Verwaltungskarriere vorweisen:
Eine sozialistische Ordnung für die schweizerische Elektrizitätswirtschaft?
1947, also lange bevor er Direktor wurde, hatte Siegrist interessanterweise in seinem Aufsatz «Die schweizerische Elektrizitätswirtschaft am Scheideweg» (Link) eine «sozialistische Ordnung für die schweizerische Elektrizitätswirtschaft» vorgeschlagen. Der Bund sollte, so Siegrist, «die Erzeugung und Grossübertragung der Elektrizität übernehmen, während die Verteilung und Abgabe von den Kantonen und – soweit diese es wünschen – von den Gemeinden besorgt wird.»
Verfassung: «Die Versorgung des Landes mit elektrischer Energie ist Sache des Bundes»
Siegrist ging in seinem Aufsatz sogar soweit, eine Verfassungsänderung vorzuschlagen. Dies sollte so lauten: «Die Versorgung des Landes mit elektrischer Energie ist Sache des Bundes.» Dazu «hätte der Bund sämtliche Kraftwerke, einschliesslich diejenigen der Industrie, sowie das der Grossübertragung dienende Leitungsnetz zu übernehmen. Kleinere Kraftwerke, deren gesamte Produktion am betreffenden Ort konsumiert wird und die deshalb den Bund nicht zu interessieren brauchen, wie etwa das Lettenwerk in Zürich, das Mattewerk in Bern oder kleine Industriekraftwerke, können getrost den bisherigen Inhabern belassen werden. Dagegen wäre nicht nur die Erzeugung von Elektrizität aus Wasserkraft, sondern jede Art der Erzeugung dem Bunde vorzubehalten, also auch die Erzeugung in thermischen und ganz besonders in Atomkraftwerken, die heute keine Utopie mehr sind.»
Kritik aus der Strombranche
Im Bulletin technique de la Suisse romande von 1947 (Link) wurde er dafür von der Strombranche zünftig kritisiert und man fragt sich, wie glücklich diese 1960 anlässlich seiner Wahl zum Direktor des Elektrizitätswirtschaftsamts gewesen ist: «La proposition de M. Siegrist, visant à laisser à la Confédération le soin d’alimenter notre pays en énergie électrique, tandis que les cantons s’occuperaient de la distribution avec l’aide des communes et des corporations, n’améliorerait pas non plus la situation, car non seulement le 56% des habitants sont déjà alimentés par des usines communales, mais en outre 19% le sont par des entreprises cantonales. Ainsi, le 75% de notre population reçoit de l’énergie électrique par l’entremise d’entreprises publiques.»
Namensändern zum Amt für Energiewirtschaft – Atomenergie gehört aber weiterhin nicht zu seinen Aufgaben
Kurz nach Amtsantritt von Hans Rudolf Siegrist erweiterte der Bundesrat die Aufgaben des Amtes: Das Eidgenössische Amt für Energiewirtschaft war geboren. Neu hinzu kamen vor allem Aufgaben im Bereich der Erdölwirtschaft («Fragen betreffend die Öl- und Erdgasschürfung») und der Rohrleitungen. Die Atomwirtschaft blieb aber weiterhin ausser Reichweite des Amtes, wie dieser Artikel von 1961 zeigt.
1969: Bewilligungen und die Sicherheit von Atomanlagen wechseln in die Zuständigkeit des Amts für Energiewirtschaft
Erst im März 1969 hob der Bundesrat schliesslich das Büro des Delegierten für Fragen der Atomenergie auf. Die Förderung der Atomforschung ging an die neue Abteilung für Wissenschaft und Forschung (das spätere Bundesamt für Bildung und Wissenschaft) im Departement des Inneren. Alle anderen Aufgaben wie die Durchführung der Bewilligungsverfahren gemäss Atomgesetz und die Behandlung von Sicherheitsfragen von Atomanlagen übernahm das Eidgenössische Amt für Energiewirtschaft.
Zu diesem Zeitpunkt waren in der Schweiz bereits drei Atomkraftwerke in Bau, nämlich Beznau I und Beznau II der Nordostschweizerischen Kraftwerke AG (NOK), sowie Mühleberg der Bernischen Kraftwerke AG. Beznau I lieferte ab Dezember 1969 den ersten kommerziellen Atomstrom der Schweiz (Video SRF vom Dezember 1969 zur Inbetriebnahme. Man beachte die musikalische Untermalung.). Weitere Kernkraftwerke waren zu diesem Zeitpunkt schon in Planung: Kaiseraugst, Leibstadt, Verbois und Graben.
Die hoffnungsvollen Pläne aus den 1950er Jahren für die Entwicklung eines eigenen Schweizer Schwerwasserreaktors waren inzwischen aufgegeben worden. Dennoch sollte der in Lucens in einer Felskaverne errichtete Versuchsreaktor fertiggebaut und mit der ersten Brennstoffladung für rund zwei Jahre betrieben werden. So zumindest berichtete die Schweizerische Vereinigung für Atomenergie in ihrem Jahresbericht 1968 (Link). Allerdings wurde der Versuchsreaktor am 21. Januar 1969 durch einen schweren Unfall zerstört. Mehr dazu im Dossier «Versuchsatomkraftwerk Lucens» des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats ENSI.
Kritik an Atomenergie wird lauter
Kaum hatte das Amt für Energiewirtschaft die Aufgaben im Bereich der Atomenergie übernommen, bekam es damit also viel zu tun. Und bald darauf noch viel mehr. Denn Anfang der 1970-er Jahre begann sich die Stimmung über die zuvor euphorisch bejubelte Atomenergie zu wandeln. Eine Übersicht dazu zeigt der Artikel «Kritik an der Atomenergie» in der Zeitung Wir Brückenbauer vom Juni 1973 (Link).
Baustopp für Kaiseraugst
Ab April 1975 besetzten Atomenergiegegner fast drei Monate lang den Bauplatz des geplanten Kraftwerks in Kaiseraugst. Im November 1975 verfügte der Bundesrat schliesslich einen Baustopp bis 1977. Dass der Protest einen Einfluss auf diesen Entscheid hatte, wollte Direktor Siegrist nicht bestätigen. Vielmehr habe diese Verzögerung damit zu tun, dass «die Behörden dadurch überrascht wurden, dass plötzlich drei Kernkraftwerke miteinander baureif wurden» und ausserdem geplant sei, das Bewilligungsverfahren zu ändern, wie in der Zeitung Die Tat im November 1975 (Link) nachzulesen war.
Sichere Energieversorgung in unsicheren Zeiten?
Im November 1969 erklärte Hans Rudolf Siegrist in einem Radio-Interview «Man darf heute versichern, dass die Energieversorgung der Schweiz auf lange Zeit hinaus gewährleistet ist». In diesem Interview hielt Siegrist gemäss Bericht im Walliser Boten (Link) fest, dass «die Energieversorgung der Schweiz durch ein sehr starkes Anwachsen des Verbrauches von Erdölprodukten gekennzeichnet sei. Es sei beunruhigend, dass die flüssigen Treibstoffe heute einen Anteil von 75% am gesamten Energieverbrauch der Schweiz haben, was sich bei einem internationalen Konflikt äusserst negativ auswirken könnte».
Erdölkrise als Auslöser für eine schweizerische Energiepolitik
Eine geradezu prophetische Aussage, denn im Herbst 1973 trat genau ein solcher Konflikt ein (siehe auch Teil 1 der Blogserie «20 Jahre schweizerisches Energiegesetz»): Die arabischen erdölexportierenden Länder drosselten wegen dem Krieg zwischen Ägypten und Israel ihre Produktion und verfügten Lieferboykotte gegen einige Länder. Als Folge stiegen die Erdölpreise innert kürzester Zeit sehr stark an.
Die Eidgenössische Kommission für die Gesamtenergiekonzeption
Die Ölkrise der frühen 70-er Jahre gab den entscheidenden Impuls, eine umfassende nationale Energiepolitik zu schaffen.1974 übernahm Bundesrat Willi Ritschard das Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement und setzte die Eidgenössische Kommission für die Gesamtenergiekonzeption (GEK) ein.
Aufgabe der GEK war es, die Ziele der Schweizer Energiepolitik zu formulieren. Diese sollte gemäss Kommission für eine «sichere, ausreichende, wirtschaftliche und umweltgerechte Energieversorgung» sorgen. Der GEK-Schlussbericht lag 1978 vor, als Hans Rudolf Siegrist bereits vom nächsten Amtsdirektor abgelöst worden war. Im November 1977 nannte die NZZ Siegrist in einem Artikel zu seinem Rücktritt den «Pragmatiker der Energiepolitik».
Eidgenössisches Amt für Energiewirtschaft 1977 bis 2001: Energieartikel, Energiegesetz, Tschernobyl, Energieperspektiven und viele Atomabstimmungen
Anfang November 1977 übernahm mit dem damals 39-jährigen Eduard Kiener der dritte Direktor die Leitung des Amts für Energiewirtschaft. Der ETH-Maschineningenieur und Ökonom war wie Siegrist kein Mann aus der Energiewirtschaft, sondern stand mitten in einer erfolgreichen Verwaltungskarriere. Und er hatte einen gewichtigen Mentor: Willi Ritschard.
Das politisch belastete Amt für Energiewirtschaft soll reorganisiert werden
In einem Interview in der NZZ vom 30. März 2001 (zeitungsarchiv.nzz.ch) wurde berichtet: «Willi Ritschard holte ihn [Kiener] dann [1975] als Stabschef der Gesamtenergiekonzeption (GEK). Motor-Columbus-Chef Michael Kohn war Präsident dieser für die schweizerische Energiezukunft wichtigen Kommission; Kieners fast ungetrübte Kontakte zur Privatwirtschaft haben ihre Wurzeln in diesem Zusammenhang. Bundesrat Ritschard betrachtete den GEK-Stab – so Kiener – als Kern eines reorganisierten Bundesamtes. Dieses hatte zwar schon lange bestanden, war aber im Wesentlichen auf eher technische Belange ausgerichtet gewesen. Mit der Erdölkrise von 1973/74 und der Auseinandersetzung um das geplante Kernkraftwerk Kaiseraugst im Jahr 1975 wurde das Amt immer stärker politisch belastet.»
Mitte 1976 wurde Eduard Kiener bereits stellvertretender Direktor des Amtes, so dass ein Jahr später seine Wahl zum Nachfolger von Hans Rudolf Siegrist, der gemäss Aussage von Eduard Kiener (Podiumsgespräch zum 90. Geburtstag des BFE), das «Heu nicht auf der gleichen Bühne hatte wie Willi Ritschard», keine wirkliche Überraschung war.
Ein grosses Erbe
Direktor Kiener «erbte» von seinem Vorgänger einen ganzen Strauss laufender politischer Geschäfte. Das wichtigste für die Zukunft der Schweizer Energiepolitik war dabei sicher die Gesamtenergiekonzeption. 1978 lag der über fünf Kilo schwere GEK-Schlussbericht endlich vor.
Ein Energieartikel in der Bundesverfassung muss her
Neben den erstmals in diesem Umfang erstellten Energieperspektiven (es wurden 13 Szenarien für die künftige Energieversorgung betrachtet), lieferte die GEK-Kommission auch Vorschläge für nationale Massnahmen fürs Energiesparen, den Ausbau der Wasserkraft und der anderen erneuerbaren Energien, aber auch für Vorsorgemassnahmen. Damit der Bund aber überhaupt in diesem Bereich tätig werden konnte, brauchte er etwas, was bis dahin fehlte: Eine Verfassungsgrundlage. So erarbeitete die Kommission also auch einen Energieartikel für die Bundesverfassung (siehe auch Teil 2 der Blogserie «20 Jahre schweizerisches Energiegesetz»).
Zwei Anläufe für den Energieartikel
Im März 1981 legte der Bundesrat die Botschaft über Grundsatzfragen der Energiepolitik (Energieartikel in der Bundesverfassung) vor. Am 27. Februar 1983 fand die Abstimmung zum Energieartikel statt (Abstimmungsbüchlein). Die Bevölkerung stimmte dem Energieartikel zwar mit 50.9% zu. Jedoch nahmen nur 11 Stände die Vorlage an, er scheiterte also am Ständemehr. Warum? Gemäss Analyse scheiterte der Energieartikel primär an der Polarisierung der beiden Lager, die einerseits «zuviel Staat» und andererseits «zu schwache staatliche Massnahmen» bemängelten. Die Arbeiten zum Energieartikel gingen also weiter und dem Bund waren bezüglich Förderung der Energieeffizienz und der erneuerbaren Energien weiterhin die Hände gebunden.
Erst 7 Jahre nach dem ersten Anlauf, am 23. September 1990, wurde der Energieartikel schliesslich mit 71% Ja-Stimmen und von allen Ständen deutlich angenommen (Abstimmungsbüchlein). Damit erhielt die Schweizer Energiepolitik erstmals eine verfassungsmässige Grundlage. Diese galt es im Anschluss in ein Gesetz zu giessen, was jedoch wiederum episch lange 9 Jahre dauerte: Am 1. Januar 1999 trat das erste Energiegesetz in Kraft (siehe auch Teil 4 und Teil 5 der Blogserie «20 Jahre schweizerisches Energiegesetz»).
Die Atomfrage und die Bretter vor der Stirn
Willi Ritschard hatte gehofft, die Atomfrage mit der Einsetzung der GEK, dem neuen Direktor des Amts für Energiewirtschaft und einer Revision des Atomgesetzes zu entkrampfen. Gelungen ist dies allerdings nicht: Die Atomfrage blieb weit oben auf der Traktandenliste. Den Humor verlor Willi Ritschard darob aber nicht:
Viele Atomabstimmungen
Was 1975 mit der Besetzung des Bauplatzes in Kaiseraugst begann, entwickelte sich zu einer langen und intensiven Periode der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Atomenergie. Zunächst wollte der Bundesrat den Konflikt durch eine Revision des Atomgesetzes von 1959 lösen, indem er den Bedarfsnachweis für neue Kernkraftwerke, mehr Mitsprache für Bevölkerung und Parlament, die Gewährleistung der sicheren Entsorgung der Abfälle sowie einen Fonds zur Deckung der Stilllegungskosten einführte. Im Mai 1979 stimmte die Bevölkerung diesem Plan mit rund 69% deutlich zu (Abstimmungsbüchlein).
Gösgen am Netz und erste Volksinitiative gegen die Atomenergie
Schon im Februar 1979 war die Atominitiative zur Abstimmung gekommen. Erst zwei Wochen zuvor war das AKW Gösgen in Betrieb gegangen. Die Initiative forderte eine nachträgliche Bewilligung des Parlaments für die bestehenden Atomkraftwerke Beznau I und II, Mühleberg und Gösgen. Weiter verlangte sie eine Zustimmung des Parlaments und der Standortregion für das im Bau stehende AKW Leibstadt und die geplanten Werke in Kaiseraugst, Graben und Verbois (Abstimmungsbüchlein). Mit 51.2% wurde diese Initiative knapp abgelehnt.
Three Mile Island
Ende März 1979, knapp eineinhalb Jahre nach Eduard Kieners Amtsantritt, kam es im Atomkraftwerk Three Mile Island in den USA zu einer teilweisen Kernschmelze. Dieser Unfall führte zu Überprüfungen der Notfallszenarien und auch zu Nachrüstungen in den Schweizer Kernkraftwerken. So konnte Gösgen seinen Normalbetrieb deswegen erst im November 1979 aufnehmen und der Bau von Leibstadt verzögerte sich um einige Jahre. Und natürlich befeuerte dieser Unfall die ohnehin schon starke Anti-Atombewegung weiter.
Kaiseraugst erhält Rahmenbewilligung, eine weitere Atomabstimmung, Leibstadt geht ans Netz
Trotzdem erteilte der Bundesrat im März 1982 Kaiseraugst die Rahmenbewilligung. Den Bedarfsnachweis betrachtete er als erbracht. Weil der Standort wegen der Erdbebengefahr in dieser Region jedoch ungünstig war, verlangte der Bundesrat in seiner Botschaft zuhanden des Parlaments zusätzliche Massnahmen zur Erdbebensicherung, wie im Walliser Boten nachzulesen war (Link). Dem parlamentarischen Entscheid im Weg stand im September 1984 allerdings noch eine weitere Atominitiative (Abstimmungsbüchlein). Sie wollte Kaiseraugst und alle neuen Atomkraftwerke in der Schweiz verbieten. Die Initiative wurde mit 55% abgelehnt. Im Dezember 1984 nahm das AKW Leibstadt seinen Betrieb auf und im März 1985 segnete das Parlament schliesslich die Rahmenbewilligung für Kaiseraugst ab, wie die Neuen Zürcher Nachrichten wussten (Link).
Tschernobyl zieht den Atomplänen den Stecker
So war also Mitte der 1980er Jahre in der Atomfrage vermeintlich alles geregelt. Doch dann passierte am 26. April 1986 das Reaktorunglück in Tschernobyl und «begrub» die Pläne für weitere Kernkraftwerke in der Schweiz. Das Parlament entschied 1988/89 die bereits erteilte Rahmenbewilligung für Kaiseraugst zurückzuziehen, ebenso die in Aussicht gestellte Rahmenbewilligung für das Atomkraftwerk Graben. Für die Nichtrealisierung erhielten die Projektanten von Kaiseraugst eine Bundesentschädigung von 350 Millionen Franken, diejenigen von Graben 227 Millionen Franken (siehe auch Teil 3 der Blogserie «20 Jahre schweizerisches Energiegesetz»). Auch für die ebenfalls noch in Planung befindlichen Atomkraftwerkprojekte in Verbois, Inwil und Rüthi war damit der Stecker endgültig gezogen.
Die Moratoriums-Initiative wird angenommen
In Eduard Kieners Amtszeit gab es danach noch zwei weitere Atomabstimmungen: 1990 – am gleichen Tag, an dem endlich der Energieartikel angenommen wurde – lehnte die Stimmbevölkerung eine weitere Atomausstiegsinitiative mit 52.9% ab. Gleichzeitig nahm sie aber die Moratoriums-Initiative mit 54.5% recht deutlich an (Abstimmungsbüchlein): Während den nächsten 10 Jahren durften demnach keine neuen Bewilligungen für Kernkraftwerke mehr erteilt werden.
Energieperspektiven mit Szenario «Kommunikationsgesellschaft»
Die Botschaft zu den beiden Atom-Initiativen von 1990 (Link) enthielt auch eine sehr ausführliche Beschreibung der Resultate der Energieperspektiven, die vom Amt für Elektrizitätswirtschaft und der Expertengruppe Energieszenarien erstellt worden waren. Interessanterweise wurde darin auch ein Szenario «Kommunikationsgesellschaft» betrachtet, also genau die Wirklichkeit, in der wir heute leben. Energieperspektiven sind auch heute noch eine wichtige Grundlage für die langfristigen energiepolitischen Entscheidungen in der Schweiz. Momentan arbeitet das Bundesamt für Energie an einer neuen Version, den Energieperspektiven 2050+ (siehe dazu Blog vom 20. Juli 2020).
Adolf Ogi und das Programm «Energie 2000»
Der damals zuständige Bundesrat Adolf Ogi interpretierte die beiden angenommenen Vorlagen – Energieartikel und Moratorium – als Handlungsauftrag und lancierte bald darauf das Aktionsprogramm Energie 2000. «Das Aktionsprogramm stützt sich auf das «Moratoriums-Szenario» der Energieszenarien. Sein Ziel ist es, den Verbrauchszuwachs bei fossilen Energien und Elektrizität möglichst rasch zu stoppen und den Beitrag der erneuerbaren Energien an die Strom- und Wärmeerzeugung deutlich zu steigern. Gleichzeitig sollen die Emissionen an Kohlendioxid bis zum Jahre 2000 mindestens stabilisiert und hernach gesenkt werden, wie dies der Bundesrat unlängst mit seinem Grundsatzentscheid für eine CO2-Abgabe beschlossen und am Mittwoch an der Genfer Weltklimakonferenz bekanntgegeben hat», berichteten die Freiburger Nachrichten im November 1990 (Link).
Neue Aufgaben für das Amt für Energiewirtschaft
Damit bekam das Amt für Energiewirtschaft eine neue Aufgabe, die der Förderung von und der Sensibilisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu Energieeffizienz und Erneuerbaren Energien. Bundesrat Ogis Nachfolger Moritz Leuenberger lancierte dann im Januar 2001, wenige Monate vor Ende der Amtszeit von Eduard Kiener, das Nachfolgeprogramm von Energie 2000: Das Programm EnergieSchweiz, das nunmehr seit über 30 Jahren läuft. Mehr dazu im Dekaden-Bericht vom Februar 2020 (Link).
Ein neuer Name: Bundesamt für Energie
Per 1. Oktober 1998 erfuhr Eduard Kieners Amt dann den zweiten Namenswechsel. Aus dem Amt für Energiewirtschaft wurde das Bundesamt für Energie BFE, aus dem EVED das UVEK.
Jahrtausendwende: Das BFE wird reorganisiert
Um die Jahrtausendwende änderte sich nicht nur der Name des Amtes, sondern auch seine interne Organisation. Damit, so Kiener in einem Artikel in der Zeitschrift energie extra (Link), sei «die Grundlage dafür geschaffen, dass das BFE auch künftig den ihm übertragenen Aufgaben gerecht werden kann». Immerhin sei 1999 das Energiegesetz in Kraft getreten und in Aussicht seien neue Aufgaben im Rahmen des Elektrizitätsmarktgesetzes, das mitten in der parlamentarischen Behandlung stehe und dem später ein Marktöffnungsgesetz für das Gas folgen werde. Weiter erfordere das CO2-Gesetz [das im Mai 2000 in Kraft trat] allenfalls die Einführung von Massnahmen, insbesondere Vereinbarungen mit der Wirtschaft. Neue Aufgaben brächte auch das neue Aktionsprogramm EnergieSchweiz, sowie der Entsorgungsfonds, der zusätzlich zum bestehenden Stilllegungsfonds für Kernkraftwerke eingerichtet werde. Und schliesslich, so Kiener hoffnungsfroh, werde das Amt mehr zu tun bekommen bei der Förderung der erneuerbaren Energien, der Energieeffizienz und der Wasserkraft, wenn in der Abstimmung vom September 2000 das Energieabgaben-Paket angenommen werde und dadurch mehr Geld für die Förderung zur Verfügung stehe.
Das Volk will keine Energieabgaben …
Doch diese Hoffnung von Kiener zerschlug sich. Die Stimmbevölkerung lehnte am 24. September 2000 die extrem kompliziert ausgestalteten Abstimmungsfragen zu diesen Energieabgaben ab (Abstimmungsbüchlein): Die Volksinitiative für einen Solarrappen wurde mit 67.0% abgelehnt, der Verfassungsartikel über eine Förderabgabe für erneuerbare Energien mit 51.8%. Und auch von einem Verfassungsartikel über eine Energielenkungsabgabe für die Umwelt wollten die Schweizer/innen nichts wissen: 55.5% lehnten ihn ab.
… und auch kein Elektrizitätsmarktgesetz
Auch das von Kiener erwähnte Elektrizitätsmarktgesetz wurde zwar im Dezember 2000 vom Parlament mit deutlicher Zustimmung verabschiedet. Die geplante Strommarktöffnung wurde jedoch in der Referendumsabstimmung vom September 2002 – als mit Walter Steinmann bereits der Nachfolger von Eduard Kiener im Amt war – mit 52.6% recht knapp abgelehnt (Abstimmungsbüchlein).
Eine entscheidende Epoche der Energiepolitik
23 Jahre stand Edi Kiener an der Spitze des Bundesamts für Energie und gestaltete die Geburt einer nationalen Energiepolitik und deren langsames Zusammenwachsen mit der Klimapolitik mit. Er diente unter 4 Bundesräten und erlebte alle erdenklichen politischen und gesellschaftlichen Strömungen. Kein Wunder ist er auch heute, mit 82 Jahren noch bestens über die Energiedebatte informiert und diskussionsfreudig wie eh und je wie er im Podiumsgespräch zum 90. Geburtstag des BFE unter Beweis stellt.
Bundesamt für Energie 2001 bis 2016: Stromversorgungsgesetz, Kernenergiegesetz, Sachplan geologische Tiefenlager, Fukushima, Energiestrategie 2050
Als vierter Direktor übernahm Walter Steinmann im Juli 2001 sein neues Amt. Wie seine beiden Vorgänger kam der damals 50-Jährige Ökonom nicht aus der Wirtschaft, war mit dieser aber durch seine bisherigen Tätigkeiten eng verbunden, zuletzt als Wirtschaftsförderer beim Kanton Solothurn. Die Medien bezeichnet ihn im Gegensatz zu Eduard Kiener, den seine Gegner auch gerne «Atom-Edi» nannten, als «keinen Mann der Kernenergie»
Ruhe ins Amt bringen
Im Podiumsgespräch zum 90. Geburtstag des BFE erinnerte sich Walter Steinmann an die Worte von Eduard Kiener bei seinem Amtsantritt. Er, Kiener, habe die Reorganisation durchgezogen, nun müsse Steinmann wieder Ruhe in den Laden bringen. Er habe dann tatsächlich so einiges wieder zusammenkitten müssen, so Steinmann.
Neben der noch frischen Neuorganisation des Amtes war Walter Steinmann aber auch konfrontiert mit den Konsequenzen der verlorenen Abstimmungen zu den Energieabgaben und zum Elektrizitätsmarktgesetz, den laufenden Arbeiten zum Kernenergiegesetz, das das längst überfällige Atomgesetz von 1959 ablösen sollte, und dem gerade gestarteten Programm EnergieSchweiz.
Dem Programm EnergieSchweiz wollte der Bundesrat übrigens 2003 die Zähne ziehen, indem er in seinem damaligen Sparpaket eine Budgetkürzung von jährlich 55 auf 15 Millionen Franken vorschlug. Das Parlament verhinderte diese drastische Kürzung, dennoch wurden die Mittel in den Folgejahren beinahe halbiert, während die Globalbeiträge an die Kantone bei rund 14 Millionen Franken pro Jahr belassen wurden.
Ein geschickter Neuanfang beim Strommarkt
Den Scherbenhaufen des Elektrizitätsmarktgesetzes wischte Steinmann optimistisch beiseite und zog sehr rasch einen Neustart dieser Vorlage auf. Dabei half auch, dass das Bundesgericht im März 2003 mit einem Urteil zu einer Durchleitungsklage die Strommarktöffnung faktisch bereits eingeführt hatte. Fast gleichzeitig mit dem Bundesgerichtsurteil startete eine vom BFE betreute und sehr breit aufgestellte Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz der Berner Alt-Regierungsrätin Dori Schaer-Born mit dem Design einer neuen Elektrizitätswirtschaftsordnung (ELWO). Daraus resultierte das Stromversorgungsgesetz (StromVG). Es ging im Juli 2004 in die Vernehmlassung und bereits im Dezember 2004 überweis der Bundesrat die Botschaft ans Parlament.
Der Einfluss der Energieperspektiven 2035 auf das StromVG
Geschickt war sicher, dass Steinmann – parallel zu den Arbeiten zum StromVG – im Herbst 2003 ein weiteres, wiederum sehr breit abgestütztes Gremium einrichtete, das «Forum Energieperspektiven». Ebenfalls unter dem Vorsitz von Dori Schaer-Born, begleitete es die Arbeiten des BFE zu den neuen Energieperspektiven 2035, dachte also kollektiv über Szenarien der Energiezukunft der Schweiz nach.
Obwohl die Energieperspektiven 2035 (Link) nicht direkt mit der Vorlage zum Stromversorgungsgesetz zu tun hatten, so strahlten die regelmässigen «Werkstattberichte» und die Diskussionen im «Forum» dennoch stark auf die politische Diskussion rund um den Strommarkt aus. Dass das Parlament in der Folge das Stromversorgungsgesetz mit einer Revision des Energiegesetzes anreicherte und mit der kostendeckenden Einspeisevergütung erstmals namhafte Fördermittel für die erneuerbaren Energien zur Verfügung stellte, mag also zumindest teilweise dem «Forum» zu den Energieperspektiven 2035 geschuldet sein.
Kein Referendum gegen das StromVG
Schliesslich stimmte das Parlament dem StromVG und parallel den neuen Förderinstrumenten im Energiegesetz im März 2007 zu. Dagegen wurde kein Referendum ergriffen, was – angesichts der doch sehr gehässigen Abstimmungskampagne zum EMG – sehr erstaunlich war.
Die Energielücke, das Klimaproblem und die vier Säulen des Bundesrats von 2007
Mitte Februar 2007 wurden die Ergebnisse der Energieperspektiven 2035 schliesslich veröffentlicht (Link) und umgehend legte der damalige UVEK-Vorsteher Moritz Leuenberger dem Bundesrat eine darauf basierende Energiestrategie vor. Schon am 21. Februar 2007 meldete der Bundesrat Vollzug: Die Energiepolitik der Schweiz sollte neu ausgerichtet werden und sich auf vier Säulen stützen (Link): Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Grosskraftwerke und eine verstärkte internationale Zusammenarbeit. Die drohende Energielücke wollte der Bundesrat mit neuen Kernkraftwerken und übergangsweise auch mit Gaskombikraftwerken abwenden. Im Februar 2008 konkretisierte der Bundesrat die bis 2020 geplanten Massnahmen mit zwei Aktionsplänen für die erneuerbaren Energien und die Energieeffizienz, einer Strategie für die Energieaussenpolitik und der Ankündigung, das CO2-Gesetz zu revidieren (Link).
Blackout in Italien – Stromabkommen lässt auf sich warten
Die Diskussionen rund ums StromVG beeinflusst hatte auch der Blackout in Italien vom 28. September 2003, der durch einen Unterbruch der Lukmanier-Leitung verursacht worden war. In einem Artikel im energate Newsletter von 2018 fasste Walter Steinmann die Geschehnisse des «Tages, der Stromgeschichte schrieb» zusammen (Link). Der Blackout machte deutlich, dass die Zusammenarbeit im Strombereich zwischen der Schweiz und Europa dringend verbessert werden musste und führte schliesslich dazu, dass der Bundesrat im Mai 2006 das Mandat für Verhandlungen über ein bilaterales Stromabkommen verabschiedete. Die Verhandlungen sind jedoch seit Anfang 2014 blockiert, da die EU neue Marktzugangsabkommen mit der Schweiz nur noch abschliessen will, wenn ein institutionelles Abkommen zustande kommt. Ein Nachteil für die Schweiz, da sich der EU-Strombinnenmarkt und seine Regulierungen seit 2007 laufend weiterentwickeln. Die Folgen der Nichtintegration in den EU-Strommarkt werden dadurch mit jedem Jahr spürbarer.
Da capo in der Atomfrage
Wie seine Vorgänger wurde auch Walter Steinmann von der Atomfrage verfolgt. Im Mai 2003 kamen wieder zwei Atominitiativen zur Abstimmung, wurden aber abgelehnt (Abstimmungsbüchlein): Strom ohne Atom mit 66.3% Nein und die Verlängerung des Moratoriums mit 58.4% Nein. An diesem Abstimmungssonntag vom 18. Mai 2003 kamen übrigens 9 (!) Vorlagen zur Abstimmung, davon 7 Volksinitiativen, die alle abgelehnt wurden (Abstimmungsergebnisse).
Das 44-jährige Atomgesetz wird abgelöst
Pünktlich zur Abstimmung war auch das neue Kernenergiegesetz parat. Es sollte das uralte Atomgesetz von 1959 ablösen und war vom Bundesrat als Gegenvorschlag zu den beiden Atom-Initiativen von 2003 konzipiert worden. Das Parlament hatte das Gesetz kurz vor der Abstimmung am 21. März 2003 verabschiedet. Es trat am 1. Januar 2005 in Kraft, nachdem auch die neue Kernenergieverordnung verabschiedet und andere Verordnungsanpassungen erfolgt waren.
Der Entsorgungsnachweis
Das neue Kernenergiegesetz schrieb vor, dass eine Rahmenbewilligung für neue Kernkraftwerke nur dann erteilt werden kann, wenn der Nachweis für die Entsorgung der anfallenden radioaktiven Abfälle erbracht ist. Bereits 1988 hatte der Bundesrat den Entsorgungsnachweis für schwach- und mittelaktive Abfälle bestätigt. Im Juni 2006 tat er dies auch für den Entsorgungsnachweis für hochaktive Abfälle. Damit war der Weg für neue Kernkraftwerkprojekte zumindest theoretisch frei. Unklar blieb aber, wo in der Schweiz ein Lager für die radioaktiven Abfälle gebaut werden soll und wie so ein Standort gefunden werden sollte.
Der Sachplan geologische Tiefenlager
Die Antwort auf diese Fragen sollte der Sachplan geologische Tiefenlager liefern. Der Bundesrat schickte den Konzeptteil dieses neuen Sachplans Anfang 2007 in eine recht kontrovers geführte Vernehmlassung und verabschiedete ihn schliesslich im April 2008. Damit gab er den Startschuss für die Standortsuche, die ausgehend von einer weissen Landkarte und der Partizipation der potenziellen Standortgebiete in drei Etappen zu einem oder zwei Standorten für die verschiedenen Abfalltypen führen soll. Das ursprünglich auf 10 Jahre geplante Auswahlverfahren dauert heute noch an. Ende November 2018 startete der Bundesrat die dritte und letzte Etappe (Medienmitteilung vom 22.11.2018). Die Rahmenbewilligungsgesuche wird die Nagra voraussichtlich Ende 2024 einreichen. Bundesrat und Parlament werden ihren Entscheid, gegen den ein fakultatives Referendum ergriffen werden kann, um das Jahr 2030 fällen.
Die Geschichte wiederholt sich: Fukushima zieht den Kernkraftwerkplänen den Stecker
Im Juni und Dezember 2008 reichten die Alpiq, die Axpo und die BKW Gesuche für drei neue AKW ein, mit denen sie die Reaktoren von Beznau, Gösgen und Mühleberg ersetzen wollten. Doch diese Pläne wurden rund zweieinhalb Jahre später zunichtegemacht: Am Freitag, 11. März 2011 löste ein Erdbeben in Japan einen gewaltigen Tsunami aus, flutete das Kernkraftwerk Fukushima und führte schliesslich zu einer Kernschmelze in drei der sechs Reaktoren.
Was wäre, wenn wir aus der Kernenergie aussteigen?
Was folgte war in der Geschichte der Schweizer Energiepolitik einzigartig. Bereits am Montag nach dem Tsunami-Unglück sistierte die damalige Bundesrätin Doris Leuthard die drei Rahmenbewilligungsgesuche. Stattdessen ordnete sie Sicherheitsüberprüfungen der bestehenden Kernkraftwerke an und beauftragte das BFE zu analysieren, ob die Schweiz in Zukunft ohne neue Kernkraftwerke auskommen könne.
Die Energieperspektiven 2050 und der Ausstieg
Das BFE erstellte die Energieperspektiven 2050 (Link) und der Bundesrat stimmte auf dieser Grundlage am 25. Mai 2011 dem Ausstieg der Schweiz aus der Kernenergie zu (Link). Ein Entscheid, der im Herbst 2011 vom Parlament bestätigt wurde.
Die Mutter aller Debatten
Zur Umsetzung dieses Plans verabschiedete der Bundesrat im September 2003 die Botschaft zur Energiestrategie 2050 (Link). Drei Jahre lang dauerte die parlamentarische Debatte: Es gab über 500 Anträge zur Änderung der Vorlage und rund 25 Zusatzberichte wurden erstellt. Kein Wunder wurde sie die «Mutter aller Debatten» genannt.
Mit der Zustimmung des Parlaments zum ersten Massnahmenpaket der Energiestrategie 2050 ging Ende September 2016 auch die Amtszeit von Walter Steinmann zu Ende. Er ging also in den Ruhestand, ohne das «Muttergeschäft» völlig in trockenen Tüchern zu wissen, denn ein Referendum war bereits angekündigt worden.
Ein reichhaltiges Portfolio
Dennoch konnte sich Walter Steinmann in der Gewissheit verabschieden, eine sehr bewegte und produktive Periode der schweizerischen Energiepolitik mitgestaltet zu haben. So kamen in seiner Amtszeit neben den bereits genannten Themen auch wichtige andere Massnahmen zum Fliegen, beispielsweise die Energieetiketten für Elektrogeräte und Fahrzeuge, die wettbewerblichen Ausschreibungen für Stromsparprojekte, das Gebäudeprogramm, die Zielvereinbarungen mit der Wirtschaft zur Rückerstattung der CO2-Abgabe ab 2008 und später des Netzzuschlags, die CO2-Vorschriften für Fahrzeuge, die Einführung der Herkunftsnachweise und der Stromkennzeichnung, die Gründung der Swissgrid und die Einsetzung der Elektrizitätskommission ElCom, die Übernahme der Aufsicht über die Sicherheit von Stauanlagen vom 2005 aufgelösten Bundesamt für Wasser und Geologie, aber auch eine deutliche Verstärkung der Forschung im Cleantech- und Energiebereich.
Bundesamt für Energie ab 2016: Revision Stromversorgungsgesetz und Energiegesetz, Energieperspektiven 2050+, Versorgungssicherheit und Klimastrategie
Im Oktober 2016 übernahm mit dem damals 44-jährigen Benoît Revaz wieder ein Mann aus der Wirtschaft und zum ersten Mal ein Romand die Leitung des inzwischen 86-jährigen BFE. Ob der Jurist dem Gesetz der Serie folgen und wie seine vier Vorgänger bis zu seiner Pensionierung im Amt bleibt, wird die Zukunft zeigen.
Zum Einstieg eine Atomabstimmung und die Abstimmung zum neuen Energiegesetz
Gleich zu Beginn seiner Amtszeit stand im November 2016 wiederum eine Atomausstiegs-Initiative auf dem Programm. Sie wurde mit 54.2% abgelehnt (Abstimmungsbüchlein). Und wenige Monate danach, im Mai 2017, folgte dann die Referendumsabstimmung zum ersten Massnahmenpaket der Energiestrategie 2050, die im Wesentlichen eine Totalrevision des Energiegesetzes beinhaltete (Abstimmungsbüchlein). Die Stimmbevölkerung nahm sie mit 58.2% deutlich an. Die gesamte Chronologie von Fukushima 2001 bis zur Referendumsabstimmung 2017 ist hier zusammengefasst.
Der Atomausstieg beginnt
Schon 2013 hatte die BKW entschieden, ihr Kernkraftwerk Mühleberg aus wirtschaftlichen Gründen stillzulegen. 2015 reichte sie beim BFE das Stilllegungsgesuch ein und im Juni 2018 erliess das UVEK die erste Stilllegungsverfügung für ein kommerzielles Kernkraftwerk in der Schweiz (Link). Am 20. Dezember 2019 wurde Mühleberg dann abgestellt, das Schweizer Fernsehen berichtete in einer Live-Schaltung (Link) über diesen historischen Moment.
Das Erbe, die Gegenwart und die Zukunft
90 Jahre alt wird das Bundesamt für Energie am 1. Oktober 2020. Bereits seit vier Jahren begleitet der fünfte Direktor Benoît Revaz das Amt, das trotz seines hohen Alters beweglich und frisch geblieben ist, weil es sich stets auf neue Aufgaben, technische Innovationen, politische und gesellschaftliche Richtungsänderungen einstellen und diese im Dienste der Energieversorgung der Schweiz umsetzen musste. Auch Benoît Revaz wird die Arbeit künftig nicht ausgehen. Sie wird sich aus historisch gewachsenen, ererbten Geschäften aber auch aus ganz neuen Dossiers zusammensetzen.
Der Pandemie-Direktor
An Flexibilität mangelt es dem Bundesamt für Energie nicht, wie auch das Pandemie-Jahr 2020 gezeigt hat: Trotz Lockdown wurde intensiv weitergearbeitet an den energiepolitischen Geschäften der Gegenwart wie beispielsweise der Revision des Stromversorgungsgesetzes und des Energiegesetzes und den damit verbundenen Fragen der Versorgungssicherheit, den vielen Energiethemen bei der Totalrevision des CO2-Gesetzes, dem Gasversorgungsgesetz (das Eduard Kiener bereits im Jahr 2000 angekündigt hatte), den Energieperspektiven 2050+, oder der Zukunft der Wasserkraft.
Die Energieversorgung ist Sache der Energiewirtschaft
Die 1947 in seinem Aufsatz formulierte Vision von Hans Rudolf Siegrist hat sich nicht erfüllt. Im Energieartikel in der Verfassung steht nicht «Die Versorgung des Landes mit elektrischer Energie ist Sache des Bundes». Stattdessen steht seit 1999 im Energiegesetz: «Die Energieversorgung ist Sache der Energiewirtschaft. Bund und Kantone sorgen für die Rahmenbedingungen, die erforderlich sind, damit die Energiewirtschaft diese Aufgabe im Gesamtinteresse optimal erfüllen kann». An diesen Rahmenbedingungen wird das BFE auch in Zukunft im Dienste der Schweiz weiterarbeiten.
Hier geht’s zum ersten Teil und zum zweiten Teil dieser Blogserie.
Marianne Zünd, Leiterin Medien und Politik, Bundesamt für Energie
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