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„Im Unterschied zu 1973 wissen wir heute, was wir zu tun haben“


Die Erdölpreiskrise in den 1970-er Jahren und Fukushima 2011 sind Wendepunkte in der Schweizer Energiegeschichte. Die Erdölpreiskrise führte zu einem Umdenken beim Schweizer Energiemix, die Reaktorkatastrophe von Fukushima war der Auslöser für den Atom-Ausstieg der Schweiz. Steht der Ukraine-Krieg nun am Anfang eines neuen Kapitels in der Schweizer Energiegeschichte? Mit der Historikerin Monika Gisler schaut Energeiaplus auf die einzelnen Kapitel, ordnet ein und fragt, was die aktuellen Ereignisse für die Zukunft bedeuten.

Energeiaplus: Während der Ölpreiskrise haben wir bereits erfahren, was es heisst, von einem bestimmten Energieträger und vom Ausland abhängig zu sein. Mit dem Ukrainekrieg zeigt sich diese Auslandabhängigkeit erneut. Kann man die beiden Ereignisse vergleichen?

Monika Gisler: Beide Krisen haben eine Verteuerung der Energie und damit der Lebenshaltungskosten zur Folge. Insofern sind sie vergleichbar.

Der zentrale Unterschied liegt darin, dass die beiden Krisen auf sehr unterschiedliche Situationen treffen: Nach 1970 erreichten wir eine maximale Abhängigkeit von Erdöl, fast 80% des Gesamtenergiemixes bestand aus diesem einzigen Energieträger.

Das ist heute anders: Die Abhängigkeit ist nicht mehr ganz so gross, und das Verhältnis von wirtschaftlicher Leistung zum Energieaufwand (Energieproduktivität) konnte verbessert werden. Vor allem aber wissen wir heute, im Gegensatz zu 1970, dass Erdöl ein Auslaufmodell ist.

Wie unterscheidet sich der gegenwärtige Umbau des Schweizer Energiesystems zur Ölkrise?

Die Unterschiede sind recht gross: Um 1970 machte man sich kaum Gedanken zur Verschwendung von Energie, sondern dachte vielmehr, dass es immer so weitergehe: Energie stand unendlich und auch günstig zur Verfügung. Heute wissen wir: Fossile Energien haben ein Ablaufdatum, nicht nur, weil sie endlich sind, sondern vor allem, weil sie von allen Faktoren am stärksten zur Klimaerwärmung beitragen.

Vor allem aber wissen wir heute, was zu tun ist, respektive zu tun wäre … Diesbezüglich erinnert das Verhalten von heute dann doch wieder an die 1970er-Jahre: Die Entscheidungsprozesse sind ungemein langwierig und der Wille zur Veränderung ist in meinen Augen bescheiden.

Sie sagen, im Unterschied zu 1973 wissen wir, was wir zu tun haben. Können Sie das konkretisieren?

Wir wissen, dass wir uns von den fossilen Energien verabschieden müssen, zu Gunsten des Klimas, aber auch, weil wir uns damit zu stark abhängig und somit angreifbar machen. Das Fundament für diese Verschiebung ist längst gelegt. Nun müssen wir rasch darauf aufbauen. Also: Auf- und Ausbau der Erneuerbaren, Effizienz und vor allem Suffizienz.

Bild: zvg Monika Gisler

Zur Person:

Monika Gisler ist Historikerin mit eigenem Büro und Dozentin für Geschichte an der ETH und der Universität Zürich. Sie hat zu verschiedenen Themen im Energiebereich publiziert. («Erdöl in der Schweiz. Eine kleine Kulturgeschichte», Jubiläumsschrift der Schweizerischen Gasindustrie 1850 bis 2020, Biographie des Kernphysikers Paul Scherrer).

 

Eine weitere Zäsur in der Schweizer Energiegeschichte ist die Reaktor-Katastrophe in Fukushima. Die Schweiz hat sich danach zum Ausstieg aus der Atomenergie bekannt. Nun kommt die Atomenergie wieder aufs Tapet – im Zusammenhang mit der Versorgungssicherheit der Schweiz. Wie ist das historisch zu werten?

Kernenergie wurde im Lauf der Geschichte wiederholt als Alternative zum bestehenden Energieregime gesehen. Vor allem in den Anfängen der Kernenergie nach 1950 dachten viele, nun hätte man mit einer einzigen Energieressource die abschliessende Antwort auf alle Energieprobleme gefunden. 20 Jahre später begannen zunächst die Natur- und Landschaftsschützerinnen und -schützer und bald einmal grosse Teile von Politik und Gesellschaft, sich der Problematik rund um die Kernenergie (Erwärmung von Flüssen, Unfälle, Abfall) bewusst zu werden.

Das wäre aus der Geschichte zu lernen: Die Antwort auf Energieprobleme ist immer eine Vielfalt an Optionen, also der Einsatz verschiedener Energieträger, des weiteren aber auch Überlegungen dazu, wie wir in Zukunft leben wollen. Technologie hat noch keines unserer Probleme gelöst, kann aber Hand dazu bieten.

Die Studie «Energieregime in der Schweiz seit 1800», die im Auftrag des Bundesamts für Energie realisiert und 2016 publiziert wurde, hat sechs Energieregimes definiert. Das vorerst letzte ab 1970 wurde unter dem Titel «Energiesparen, Energieeffizienz und alternative Energieträger» zusammengefasst. Dieses Regime scheint immer noch aktuell. Wie beurteilen Sie das?

Ich spreche gerne vom 21. Jahrhundert als dem Zeitalter der erneuerbaren Energien, und hoffe, dass dies nicht Utopie bleibt.

Welche Impulse haben zu den grundlegenden Umwälzungen in der Energiegeschichte geführt? Erkennen Sie ein Muster?

Verschiebungen der Energieregimes waren immer gekennzeichnet von einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren: Bevölkerungszunahme, technologische Neuerungen, Ausbau der Infrastruktur, der Wille zu Veränderungen, politische Anpassungen, und vor allem das Bereitstellen von neuen potenteren Energieträgern: Kohle lieferte mehr Energie als Holz (Energiedichte), Erdöl mehr als Kohle, und Kernenergie hat sowieso alles übertroffen. Diesbezüglich stehen wir wirklich vor grossen Herausforderungen.

Lässt sich da auch ein spezifisch schweizerischer Weg identifizieren?

Spezifisch war sicher das fast gänzliche Verschwinden der Kohle nach 1960. Global sah das anders aus. Und auf politischer Ebene haben sich Bundesrat und Parlament fast ausschliesslich mit der Elektrizität beschäftigt. Der Erdölmarkt wurde wirtschaftspolitisch reglementiert, gesellschaftspolitisch konnte er tun und lassen, wie er wollte. Das ist heute ein Problem.

Seit den 1970er Jahren taucht das Thema Versorgungssicherheit immer wieder auf der politischen Agenda auf. Was ist neu an der aktuellen Diskussion?

Wir müssen endlich erkennen, dass Versorgungssicherheit mehr ist, als lediglich genügend Energie zur Verfügung zu stellen. Die Abhängigkeit von autoritären Regimes macht ein Land politisch vulnerabel. Darauf müssen Demokratien eine Antwort finden. Das gilt notabene auch für die zunehmend nachgefragten mineralischen Rohstoffe, die wir für die Energiewende und die neuen Technologien benötigen. Hier dürfen wir keinesfalls in dieselbe Falle treten wie bei den fossilen Energien.

Wie stark ist die Versorgungssicherheit denn mit den einzelnen Wendepunkten in der Schweizer Energiegeschichte verknüpft?

Mit dem Einstieg in die fossilen Energien (Kohle um 1850) haben wir uns vom Ausland abhängig gemacht, mit dem Einstieg ins Erdöl und später Erdgas zudem von nicht-demokratischen Staaten. Das ist allerdings kein schweizerisches Spezifikum.

Als Historikerin sind sie keine Prophetin. Aber wagen wir doch einen Blick in die Zukunft. Wie sieht das Energieregime der Zukunft aus? Oder anders gefragt: Welcher Titel trägt das aktuelle Kapitel der Schweizer Energiegeschichte?

Es braucht eine radikale Wende. Wir müssen darüber reden, dass Verzicht nicht negativ ist, dass weniger Abhängigkeiten mehr Freiheit bedeuten. Nur weil bislang der Lebensstandard mit der Energienachfrage korrelierte, heisst das nicht, dass dies in Zukunft auch so sein muss. Ein gutes Leben ist nicht an ein Maximum an Energiekonsum gebunden.

 

Die Meilensteine der Schweizer Energieversorgung:

  • Die Einfuhr von Kohle treibt ab 1850 die Schweizer Wirtschaft an. Möglich ist das durch das schnell wachsende Eisenbahnnetz in der Schweiz und Europa. Kohle wird bald zur wichtigsten Energiequelle.
  • Ab 1880 setzt die Elektrifizierung ein, zuerst in der Hotellerie. Eine Vielzahl kleiner, lokaler Elektrizitätsversorger entsteht. Die Bahnelektrifizierung und vor allem die Möglichkeiten der Wasserkraft geben weitere entscheidende Impulse. 1910 weist die Schweiz verglichen mit anderen Ländern die höchste Stromproduktion pro Person auf.
  • Die Wasserkraft wird ab Anfang 1900 immer bedeutender – trotz der hohen Investitionen. Ein Stromnetz wird aufgebaut, um die «weisse Kohle» zu transportieren. Die Rede ist vom «Recht des Bürgers auf Strom».
  • Das Erdölregime setzt ab 1920 ein – mit dem Auftauchen der ersten Autos Ende des 19. Jahrhunderts. Ab 1930 spielt das «schwarze Gold» eine bedeutende Rolle. Der Erdölanteil am Energieverbrauch steigt von knapp einem Prozent im Jahr 1910 auf 77 Prozent im Jahr 1970. Bis 1970 wird die Energie kaum als begrenztes Gut wahrgenommen. Das ändert sich mit der ersten Erdölkrise von 1973. 2010 macht das Erdöl noch 45 Prozent am Endenergieverbrauch aus. Die Versorgungssicherheit wird seither regelmässig auf die politische Agenda gesetzt. Der Energieartikel wird 1990 in der Bundesverfassung verankert.
  • Das Atomenergieregime (ab 1945): Die Atomenergie verspricht zunächst, alle bestehenden und zukünftigen Energieprobleme zu lösen. In der Schweiz werden fünf Kernkraftwerke gebaut und in Betrieb genommen.
  • Energiesparen, Energieeffizienz, erneuerbare Energien (ab 1970): Die Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 führt zu einem Umdenken: Die Schweizer Stimmbevölkerung sagt im Mai 2017 ja zum Atomausstieg und zum Ausbau von erneuerbaren Energien.

Interview: Brigitte Mader, Kommunikation, Bundesamt für Energie
Bild: Shutterstock, Stock-Foto ID: 1206054304

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