Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 9: Partizipation – Die Diskussion über das «Wo» in Etappe 2
Eine wichtige Erkenntnis im Blog zum Überblick über die Partizipation ist, dass die Aufgaben, zu denen eine Mitwirkung möglich ist, klar definiert sein sollen. Eine der wichtigsten Aufgaben der sechs Regionalkonferenzen (RK) in der zweiten Etappe des Sachplanverfahrens war es, sich zur Frage von möglichen Standorten von Oberflächenanlagen (OFA) für Tiefenlager zu äussern. Im Gegensatz zur Standortwahl und zur Festlegung des Lagerbereichs im Untergrund, bei dem ausschliesslich die Sicherheit die Eignung bestimmt, besteht an der Oberfläche eine gewisse raumplanerische Flexibilität.
Die RK erhielten vom Bundesamt für Energie (BFE) deshalb die Aufgabe, die im Januar 2012 von der Nagra veröffentlichten zwanzig Vorschläge (einer bis vier Vorschläge pro Region) für OFA-Standorte zu bewerten. Die Vorberatung dieser Bewertung leisteten die Fachgruppen OFA (FG OFA) jeder RK. Da es kein allgemein gültiges Vorgehen für diese raumplanerische Interessensabwägung gibt, wählten die RK ihren Bewertungsprozess selbst. So erstaunt es nicht, dass jede Region die Kriterien unterschiedlich gewichtete: Ist eine geringe Sichtbarkeit von Wohngebieten aus wichtiger als ein gut erschliessbarer Standort? Ist ein Standort auf einer Fruchtfolgefläche gegenüber einem im Wald zu bevorzugen?
Nach einer ersten Auseinandersetzung kam die Forderung auf, dass die von der Nagra erarbeiteten Vorschläge durch weitere zu ergänzen seien. Die Kantone und RK konnten teilweise die Vorschläge der Nagra nicht nachvollziehen und gewichteten einzelne Kriterien anders als die Nagra. Zum Beispiel wurde der Schutz des Grundwassers höher gewichtet als andere Kriterien. Aus einem intensiven Austausch zwischen den Standortkantonen, der Nagra und den RK entstanden 14 neue Vorschläge. So waren in den Regionen jeweils ein (Wellenberg) bis zehn (Nördlich Lägern) Areale zu bewerten. Um diesem Prozess Zeit zu geben, wurde der Zeitplan zur Erarbeitung der Stellungnahmen angepasst. Die FG OFA diskutierten die Vorschläge, besichtigten die möglichen Areale, konsultierten Fachpersonen, erarbeiteten Bewertungsinstrumente und stellten Forderungen. Zur Aufgabe der FG OFA äusserte sich die FG-Vorsteherin von Südranden, Regula Widmer, in den «Schaffhauser Nachrichten» am 5. Juli 2013, sie hätten «die Wahl zwischen Pest und Cholera» gehabt.
Um die Bewertung fachlich fundiert vornehmen zu können, konnten die Fachgruppen selbstgewählte externe Spezialist/innen beiziehen, die vom BFE finanziert wurden. Meist handelte es sich um Raumplanungsbüros. Die Diskussionen in den FG OFA und den RK dauerten unterschiedlich lange. Die Plattform Wellenberg verabschiedete ihre Stellungnahme im Januar 2013. Zürich Nordost hingegen stimmte über ihre Position erst ein Jahr später ab. Rund hundert Fachgruppensitzungen, acht Begehungen sowie diverse Vollversammlungen wurden benötigt, um die Stellungnahmen zu finalisieren. Zudem erstellte die Nagra aufwändige Sichtbarkeitsanalysen, durch die ein Eindruck entstehen konnte, wie die Anlagen dereinst aussehen könnten. Diese erhielten teils auch sehr aufwändige Begründungen. Beispielsweise umfasste der Anhang der Stellungnahme von Nördlich Lägern (NL) über 500 Seiten.
Die umstrittensten Fragen waren diejenigen der Sicherheit solcher Anlagen, zum Standort der Brennelementverpackungsanlage, zu Auswirkungen auf das Grundwasser, der Sichtbarkeit sowie die Nähe zu Siedlungen. Fachliche Grundlagen lieferten die Nagra oder Bundesbehörden wie das BFE, das Bundesamt für Umwelt oder das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat. Beispielsweise verfasste die Nagra zur Frage der grundsätzlichen Bewilligungsfähigkeit einer OFA einen eigenen technischen Bericht (NTB 13-01). Zusätzlich zu Sicherheitsfragen standen auch Fragen der Auswirkungen solcher Anlagen auf Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft im Fokus. Diese wurden ebenfalls detailliert in Gremien wie der FG SÖW (sozioökonomisch-ökologische Wirkungen) debattiert und entsprechende Fachleute mit der Beantwortung beauftragt. Diese Fülle an Informationen floss in die Beurteilung der RK zu den OFA-Standortvorschlägen ein. Im Vorwort der Stellungnahme der RK NL äusserten sich der Präsident der RK, Hanspeter Lienhart und der Vorsitzende der FG OFA, Marcel Baldinger, wie folgt: «Wenn die Vollversammlung vom 14. Dezember 2013 eine Standortempfehlung abgibt, haben wir die erste grosse Aufgabe gelöst. Wir überlassen den Entscheid über die Standorte von Oberflächenanlagen nicht allein den Experten des BFE und der Nagra, sondern bringen unsere Erfahrungen und Meinungen als Bewohner der Region NL mit ein.» Die Haltungen der sechs Regionalkonferenzen waren alle ähnlich formuliert, sie lauteten «von den Arealen, die bewertet wurden, wies der Standort X am meisten Vorteile, beziehungsweise am wenigsten Nachteile auf.» bis zu «alle Vorschläge sind ungeeignet, aber Vorschlag Y ist am wenigsten ungeeignet». Die meisten RK verlangten zudem eine erneute Konsultation, falls ihr Gebiet weiterverfolgt werden sollte.
Basierend auf diesen Vorschlägen bezeichnete die Nagra sieben Standortareale (eines pro Region ausser in NL, wo es zwei waren) und erstellte für jedes Areal so genannte Planungsstudien. Sie waren die Grundlagen für die weiteren Verfahrensschritte wie die Voruntersuchungen zur Umweltverträglichkeitsprüfung. Soweit möglich, hat die Nagra die Empfehlungen der RK berücksichtigt – die Partizipation hatte folglich einen direkten Einfluss auf das Verfahren.
Stefan Jordi, Leiter Dienst Regionale Partizipation, Bundesamt für Energie
In der Schweiz ist gesetzlich vorgeschrieben, dass die Abfälle langfristig sicher in geologische Tiefenlager verbracht werden. Das Standortsuchverfahren dafür läuft seit 2008 gemäss dem Sachplan geologische Tiefenlager. Damit wird der Einbezug der betroffenen Kantone, Gemeinden und Bevölkerung sichergestellt. Geleitet wird dieses Verfahren durch das Bundesamt für Energie.
Nach heutiger Planung soll die Standortwahl 2031 mit der Genehmigung der Rahmenbewilligungen für das geologische Tiefenlager und die Brennelementverpackungsanlage abgeschlossen sein. Auch diese beiden Verfahren leitet das Bundesamt für Energie.
Bisher sind in dieser Blogserie zur Entsorgung der radioaktiven Abfälle erschienen:
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 1: 1900 – 1980 | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 2: bis 2008 | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 3: Menge und Arten der Abfälle | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 4: Ausweg aus der Sackgasse | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 5: Das Entsorgungsprogramm | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 6: Der Konzeptteil zum Sachplan geologische Tiefenlager | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 7: Sachplan geologische Tiefenlager, Etappe 1 | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 8: Sachplan geologische Tiefenlager, Etappe 2 | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie
Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 9: Partizipation im Sachplanverfahren (Überblick) | BFE-Magazin energeiaplus | Energiemagazin des Bundesamtes für Energie


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