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Was haben Goethe und Schiller mit geologischen Tiefenlagern für radioaktive Abfälle zu tun?


Die radioaktiven Abfälle der Schweiz werden im Laufe des 21. Jahrhunderts in ein geologisches Tiefenlager eingelagert. Dort sollen sie für Jahrtausende unberührt verbleiben. Im Gedächtnis müssen sie indes überdauern, um zukünftigen Generationen und Gesellschaften die Gefahr bewusst zu halten, die von den Abfällen ausgeht. Mit der Frage, wie das geschehen soll, setzen sich weltweit viele Wissenschaftler/innen auseinander.

Einen Beitrag zur Frage leistet auch der Literatur- und Sprachwissenschaftler Dr. Markus Gut. Er studierte Germanistik und Geschichte in Zürich und New York, promovierte an der Universität Zürich und arbeitet zurzeit für die ETH Foundation (Website M. Gut). Seine Dissertation «Semiotik der Verewigung» wurde vom Schweizerischen Nationalfonds SNF finanziert, erschien 2020 als Monographie im Wilhelm Fink Verlag und ist auch digital frei zugänglich, inkl. English Summary der wichtigsten Resultate. Darin zeigt er auf, wie sich literarische Techniken in den Dienst des langfristigen Wissenserhalts stellen. Lassen sich daraus auch Schlüsse ziehen, damit für ein künftiges Tiefenlager nicht die Redensart „Aus den Augen, aus dem Sinn“ zum Tragen kommt? Seine Erkenntnisse erklärt Markus Gut im Interview mit Energeiaplus.

Energeiaplus: Sie untersuchen in Ihrer Forschung Techniken, die dem langfristigen Wissenserhalt dienen. Warum stützen Sie sich dabei ausgerechnet auf literarische Texte um 1800?

zvg / Markus Gut

Markus Gut: Wenn es um langfristigen Wissenserhalt geht, so bilden literarische Texte eine enorme «Datengrundlage», die in dieser Hinsicht bislang noch kaum systematisch untersucht wurde. Hier setze ich an, denn lange bevor es moderne Forschungsdisziplinen wie Literaturwissenschaft, Linguistik, Archäologie oder Neurowissenschaften gab, experimentierten die Menschen über die (niedergeschriebene) Sprache schon mit Fragen des langfristigen Wissenserhalts. Seit Jahrtausenden suchte man schon nach Formulierungen, die die Zeit überdauern, nach Worten, die nicht nur auf etwas Abwesendes verweisen, sondern dieses Abwesende präsent machen sollen. In der Zeit um 1800 erfährt diese Experimentierfreudigkeit in unserem Kulturraum eine zusätzliche Akzentuierung.

Wie kam es zu dieser Akzentuierung?

Vereinfacht gesagt: Im Zuge der Aufklärung verliert die Bibel an Bedeutung und das einst vor allem Gott vorbehaltene Attribut des Schöpferischen wird auf den Menschen übertragen: auf das schöpferische Individuum, das vermeintlich allein aus sich selbst heraus Neues schafft. Solche Menschen begann man, zunehmend als «Genie» zu bezeichnen – ein Wort, das wir bis heute brauchen. So steckt die lateinische Wurzel des Begriffs Genie etwa auch im Wort «Ingenieur».

Und dieses erstarkende Selbstbewusstsein schöpferischer Individuen trat zunächst besonders klar im Zusammenhang mit Literatur auf?

Ja, nicht diejenigen waren mehr die besten Dichter, die nach den Vorgaben der religiösen Tradition und den Regeln antiker Autoritäten wie etwa Aristoteles Altes neu variierten, sondern diejenigen, die «völlig» Neues erschufen. Dieses neue, heute omnipräsente Prinzip schlug sich dann auch in der Entstehung eines Urheberrechtes nieder und übertrug sich auf die verschiedensten Bereiche. Diese Dynamik ist bis in unsere Zeit nicht abgeschlossen.

So manche der heutigen «Genies» träumen ebenfalls von unsterblichem Ruhm…

Das Genie hat ein zentrales Problem: Es «bemächtigt» sich des göttlichen Attributs des Schöpferischen, um ein Genie zu werden, aber um ein Genie zu bleiben, müsste es ständig neues Erschaffen. Wir bezeichnen Genies, denen dies besonders schlecht gelingt, heute mit abschätzigen Begriffen wie «Eintagsfliegen». Dem Genie fehlt nämlich ein zweites göttliches Attribut: die Ewigkeit. Da ein schöpferischer, aber sterblicher Mensch nicht ewig etwas Neues erschaffen kann, bleibt ihm nur noch die Hoffnung, «Ewiges» zu erschaffen, ein «unsterbliches» Werk, mit dem er oder sie «für immer» in Erinnerung bleibt. Für ein literarisches Werk heisst dies: es so zu formulieren, dass es möglichst dauerhaft gelesen und «verstanden» wird. Dieser Wunsch ist uralt, aber er erhält im Zuge des 18. Jahrhunderts eine neue Dringlichkeit und deswegen lassen sich die dabei eingesetzten Techniken um 1800 besonders gut beobachten.

In Ihrem Buch präsentieren Sie eine Typologie dieser Techniken, können Sie die wichtigsten davon kurz erklären?

Grundsätzlich lassen sich drei Grundtechniken beobachten, die ihrerseits wieder ihre eigenen Untervarianten besitzen:

Die erste zielt darauf ab, die Lesenden in eine möglichst unbeendbare Lektüre zu zwingen, indem etwa das vermeintliche Ende einer Geschichte der eigentliche Anfang ist; eine radikale Untervariante davon wäre der künstliche Abbruch einer Geschichte, denn was regt mehr zur weiteren Auseinandersetzung an als das Unvollständige, Fragmentarische?

Die zweite Grundtechnik zielt nicht auf Unendlichkeit des Verschriftlichten, sondern auf eine möglichst hohe Autonomie: Eine Information soll möglichst selbsterklärend sein. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn in einem Gedicht nicht nur von einem Echo erzählt wird, sondern z. B. über den Klang doppelt verwendeter Worte auch ein Echo-Effekt hergestellt wird.

Die dritte sucht gewissermassen die Prinzipien der beiden ersten Grundtechniken miteinander zu kombinieren: Über einen Verweis auf sich selbst, zielt sie sowohl auf Autonomie als auch auf eine unbeendbare Lektüre ab. Bekannte Beispiele für eine solche «Spiegelung» wären etwa das Buch im Buch (z. B. Michael Endes «Unendliche Geschichte»), filmische Übertragung im Film (z. B. in «The Hunger Games») oder der Kindervers vom Männchen mit dem hohlen Zahn.

Sie zeigen auf, dass diese grundlegenden Techniken über die Literatur hinaus in den Dienst des langfristigen Wissenserhalts gestellt werden resp. werden können. Dies träfe auch im Zusammenhang mit geologischen Tiefenlagern zu. Können Sie zum Schluss auch dazu ein konkretes Beispiel machen? Wie können die Techniken der Literatur auf ein naturwissenschaftlich-technisches Projekt übertragen werden?

Ich will es an einem vereinfachten, dafür umso anschaulicheren Beispiel versuchen: Die Hauptrichtung der bisherigen von den betreffenden Institutionen angestellten Überlegungen zielt darauf ab, die Kommunikation über geologische Tiefenlager möglichst lange lebendig zu halten. Dazu sind etwa Museen über den Lagern angedacht, die das entsprechende Wissen an kommende Generationen vermitteln. Dieses Prinzip entspräche ganz der ersten der oben genannten Grundtechniken.

Nun liesse sich die Kernbotschaft eines solchen Museums zusätzlich dadurch absichern, dass man dieses Prinzip mit der dritten oben genannten Technik der Spiegelung kombiniert: Das Museum liesse sich etwa architektonisch so weit wie möglich als ein kleines Abbild des darunterliegenden Lagers gestalten, sodass es aus seinem Grundriss heraus selbst dann noch seine ursprüngliche Aussagekraft bewahrt, wenn das Gebäude plötzlich zu einem fremden Zweck genutzt würde oder in Ruinen liegt. Das heisst, die Anlage des Gebäudes erklärt sich gewissermassen aus sich selbst heraus, wodurch die Kernbotschaft stärker gegen Veränderungen oder sinnentfremdende Interpretationen abgesichert ist.

Die in meinem Buch erarbeitete Typologie könnte also auch als zeichentheoretische Basis genutzt werden, um bereits ausgearbeitete oder angedachte Massnahmen zum langfristigen Wissenserhalt systematisch zu ergänzen, frühzeitig in einem ganzheitlichen Ansatz zu kombinieren und so sicherer zu machen. Zudem könnte sie die Behörden und Lagerbetreiber künftig bei der Auswahl und Bewertung der vorgeschlagenen Massnahmen unterstützen.

Die Fragen stellte Philippe Schaub, Fachspezialist Entsorgung radioaktive Abfälle, BFE

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