Vom Umgang mit radioaktiven Abfällen in der Schweiz – Teil 1: ab 1900
In einem Tiefenlager sollen die radioaktiven Abfälle der Schweiz dereinst gelagert werden. Dieses Tiefenlager soll im Gebiet Nördlich Lägern realisiert werden. Das hat die Nagra, die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, im September 2022 angekündigt. Die ersten Abfälle können frühestens 2050 dort gelagert werden. In knapp 100 Jahren soll das Tiefenlager – gemäss Zeitplan – endgültig verschlossen werden. Wer wird dann noch wissen, welche Abklärungen und Überlegungen 100 Jahre zuvor gemacht worden sind? In einer Artikel-Serie rollt energeiaplus die Geschichte dieser Standortsuche auf. Zum Auftakt geht es darum, seit wann und wie radioaktiver Abfall in der Schweiz anfällt.
Radioaktive Abfälle fallen in der Schweiz täglich an. Sie entstehen bei der Stromproduktion in den vier Kernkraftwerken (KKW), beim Rückbau des KKW Mühleberg, aber auch in der Medizin, Industrie und Forschung (MIF). Solche MIF-Abfälle gibt es seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich dabei um schwach- bis mittelaktive Abfälle. Zwischen 1907 und 1963 wurde Radium beispielsweise bei der Uhrenherstellung als Leuchtfarbe verwendet. (siehe hier und hier. Ab den 1960er Jahren wurde stattdessen radioaktiver Wasserstoff (Tritium) eingesetzt als Lichtquelle für Uhrenzifferblätter und -zeiger.
Heutzutage fallen Abfälle aus dem MIF-Bereich vorwiegend in der Uhrenfabrikation und der Forschung an – aus dem Bereich Medizin hingegen sehr wenig. Zudem tauchen immer wieder Altlasten – meist Radium aus der Uhrenindustrie (siehe hier) – auf. Seit 1969 entstehen zudem Abfälle in den Kernkraftwerken. Diese umfassen abgebrannte Brennelemente (sie gelten als hochradioaktiv), Betriebsabfälle und Abfälle aus dem Rückbau der Werke.
Die Frage der Entsorgung der radioaktiven Abfälle ist so alt wie ihre Entstehung: Zwischen 1969 und 1982 wurden schwach- und mittelaktive Abfälle im atlantischen Ozean versenkt. An diesen internationalen Versenkaktionen nahm auch die Schweiz teil. 1983 trat ein Moratorium der Unterzeichnerstaaten der Londoner Konvention in Kraft. Danach wurden die Meeresversenkungen eingestellt. Die Londoner Konvention aus dem Jahr 1972 gehört zu den ersten völkerrechtlichen Verträgen, die den Meeresschutz international zur Pflicht gemacht haben. 1992 beschloss der Bundesrat die Meeresversenkungen endgültig nicht wieder aufzunehmen. 1993 wurde die Londoner Konvention so erweitert, dass die Versenkung aller Arten radioaktiver Abfälle im Meer definitiv verboten wurde.
Schon zuvor reiften Pläne zum Bau eines zentralen Zwischenlagers in Würenlingen. Im Jahr 2000 wurde es eingeweiht.
Ein Teil der Abfälle im zentralen Zwischenlager stammt aus einem gescheiterten Experiment: In der Schweiz wurden in den 1950er Jahren drei Projekte für die Entwicklung eines Schweizer Kernkraftwerks verfolgt. Der Bund führte die drei Vorhaben schliesslich zum nationalen Projekt, dem Versuchsatomkraftwerk Lucens (VAKL) zusammen. Als der Versuchsreaktor am 21. Januar 1969 den Leistungsbetrieb aufnehmen sollte, ereignete sich ein Unfall, der das Aus für die Entwicklung dieses Schweizer Kernkraftwerks bedeutete (Details zum Projekt auf Wikipedia). Ende 1974 waren die Zerlegungs- und Dekontaminationsarbeiten in Lucens abgeschlossen. Die daraus entstandenen radioaktive Abfälle sind heute im Zwischenlager eingelagert. Reaktorkaverne und Stablager wurden in den 1990er Jahren zubetoniert.
1972 gründeten die Betreiber der Kernkraftwerke und der Bund die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra). Diese erhielt den Auftrag, ein Tiefenlager zu planen, zu errichten und zu betreiben. Die radioaktiven Abfälle im Untergrund zu entsorgen, war schon lange eine Option. Darum führte die Nagra ab 1980 in verschiedenen Orten der Schweiz Bohrungen durch, um geeignete Schichten – sogenannte «Wirtsgesteine» – zu finden, in denen die radioaktiven Abfälle sicher gelagert werden könnten.
José Rodriguez, Fachspezialist Entsorgung radioaktive Abfälle, BFE
Bild: Ein Uhrmacher arbeitet im Juli 1960 in einer Westschweizer Stadt an einem Uhrwerk. (KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Str)
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In der Schweiz ist gesetzlich vorgeschrieben, dass die Abfälle langfristig sicher in geologische Tiefenlager verbracht werden. Das Standortsuchverfahren dafür läuft seit 2008 gemäss dem Sachplan geologische Tiefenlager. Damit wird der Einbezug der betroffenen Kantone, Gemeinden und Bevölkerung sichergestellt. Geleitet wird dieses Verfahren durch das Bundesamt für Energie.
Nach heutiger Planung soll die Standortwahl 2031 mit der Genehmigung der Rahmenbewilligungen für das geologische Tiefenlager und die Brennelementverpackungsanlage abgeschlossen sein. Auch diese beiden Verfahren leitet das Bundesamt für Energie.
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