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Den Energieverbrauch zu senken, durch neue Lebens- und Arbeitsformen, effizientes Mobilitätsverhalten oder ein verändertes Umweltbewusstsein - das ist das Ziel des SWEET-Aufrufs "Living&Working". Zu diesem Zweck entwickeln, implementieren und testen die beiden ausgewählten Konsortien SWICE und LANTERN neue Ansätze, Methoden und Technologien in sogenannten "Living Labs". Joëlle Mastelic, Professorin an der Fachhochschule Westschweiz und Koordinatorin von LANTERN, und Marilyne Andersen, Professorin an der EPFL und Koordinatorin von SWICE, erzählen uns, wo die Schwerpunkte ihrer Forschung liegen und was das Besondere an der Forschung in Living Labs ist.

Energeiaplus: Wo setzen Ihre Konsortien ihre Prioritäten? Wie unterscheiden sich Ihre Projekte?

HSE-SO-Professorin Joëlle Mastelic koordiniert die LANTERN-Aktivitäten. Bild: EnergyLivingLab

Joëlle Mastelic: Wir konzentrieren uns auf die Dekarbonisierung des Gebäudebestands und der Mobilität. Diese beiden Bereiche haben das größte Potenzial, um viel zu bewirken. Grundsätzlich denke ich, dass unsere beiden Konsortien recht ähnlich sind. Beide arbeiten an der Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Technik. Das Ziel ist es, gemeinsam technische Lösungen zu entwickeln, damit sie besser angewendet werden können.

Marilyne Andersen: Bei SWICE konzentrieren wir uns auf den Menschen als treibende Kraft des Wandels, deshalb haben wir auch viele Sozialwissenschaftler im Team. Wir konzentrieren uns auf die gebaute Umwelt als Ort des Wandels - von einzelnen Gebäuden bis hin zu Stadtvierteln. Dabei spielt auch die Mobilität eine Rolle. Im Mittelpunkt des Wandels steht immer die Energie: Wie wird Energie verwaltet, wie wird sie bereitgestellt, wie wird sie genutzt?

Wie kann ich mir ein Living Lab vorstellen?

Joëlle Mastelic: In Living Labs entwickeln wir neue Lösungen - in realen Situationen, gemeinsam mit echten Nutzern. Im Gegensatz zu einem Testlabor können wir hier die Rahmenbedingungen kaum kontrollieren.

Ein Living Lab in unserem Konsortium ist zum Beispiel die Stadt Lugano. Hier untersuchen wir, wie unser Freizeitverhalten den Energie-Fußabdruck beeinflusst. Ein anderes Living Lab befindet sich in der Stadt Winterthur und andere sind an Hochschulen angesiedelt, z.B. das Energy Living Lab an der Fachhochschule Westschweiz. Und natürlich gibt es auch Living Labs, die in Unternehmen eingerichtet wurden. Es ist wichtig, vier Arten von Akteuren einzubeziehen: den öffentlichen Sektor, Unternehmen, Hochschulen und Endverbraucher.

Marilyne Andersen: Wir arbeiten mit verschiedenen etablierten Living Labs oder Ad-hoc-Gemeinschaften in Städten zusammen. Eines unserer Living Labs wird sich in Freiburg befinden: Hier bauen wir derzeit ein neues Gebäude für ein Forschungszentrum, das Smart Living Lab, das Teil des Innovationsviertels Bluefactory sein wird, die wir beide als Living Labs nutzen werden, in denen wir arbeiten und leben werden. Wir nutzen auch den Campus der EPFL für diesen Zweck. Es ist wichtig, dass wir einen klaren Rahmen für diese Interaktionen definieren, der groß genug ist, um das wirkliche Leben zu repräsentieren, aber auch begrenzt genug, um sinnvoll vergleichen und beobachten zu können.

Können Sie Beispiele für Projekte oder Lösungen nennen, die Sie gerne in einem solchen Living Lab entwickeln oder testen würden?

Joëlle Mastelic: Im Living Lab in Lugano wurde in einem Co-Design-Prozess eine App entwickelt, die das Carsharing in der Stadt koordiniert. Ziel ist es, die Mobilität in der Stadt effizienter zu gestalten und die Anzahl der Autos im Verkehr zu reduzieren. Jetzt wird die App in der Praxis getestet und wir untersuchen, ob und wie sie genutzt wird und wie sich das Mobilitätsverhalten dadurch verändert.

EPFL-Professorin Marilyne Andersen ist Koordinatorin von SWICE Bild: Smart Living Lab, Thomas Delley

Marilyne Andersen: Im Smart-Living-Gebäude in Freiburg wollen wir untersuchen, wie mehr Menschen im selben Raum zusammenarbeiten können, ohne den Komfort und die Zufriedenheit am Arbeitsplatz zu beeinträchtigen. Außerdem wollen wir mit digitalen Zwillingen arbeiten, um die Energiesysteme der realen Welt zu modellieren. Anhand dieser digitalen Zwillinge können wir dann Szenarien simulieren, um die Auswirkungen in realen Systemen zu antizipieren. Ein Projekt im Living Lab Suurstoffi in Rotkreuz beschäftigt sich mit dem Thema Mobilität. Um einen Benchmark der aktuellen Situation zu erhalten, haben wir eine Umfrage unter den Bewohnern durchgeführt. In einem zweiten Schritt werden Interventionen zur Reduktion des Energieverbrauchs durch eine veränderte Mobilität entwickelt.

Joëlle Mastelic: Wir haben auch ein Team, das sich mit der Einrichtung von Living Labs befasst. In Genf zum Beispiel soll ein Viertel saniert werden, und wir möchten in diesem Prozess ein Living Lab einrichten, um Lösungen zunächst in einem Gebäude, dann im Viertel und dann in der Stadt zu testen. Wir würden gerne ein Programm aufbauen, um dieselben Experimente in verschiedenen Städten durchzuführen und die Ergebnisse zu verbreiten.

Geht es bei Living Labs eher um die Erprobung bestehender Lösungen oder eher um die Entwicklung neuer Ideen und Lösungen?

Joëlle Mastelic: Wenn es nur um das Testen geht, dann ist es kein Living Lab. Ein Living Lab basiert auf einem Co-Design-Prozess mit verschiedenen Interessengruppen, was bedeutet, dass wir verschiedene Interessengruppen von der Idee über den Prototyp bis hin zur Marktreife einbeziehen. Gute Ideen können von überall her kommen!

Was sind die Nachteile dieser Methoden?

Marilyne Andersen: In der Wissenschaft brauchen wir, um Veränderungen zu messen, eine Referenz- oder Kontrollgruppe und eine Interventionsgruppe - zum Beispiel ein Vorher-Nachher-Szenario, bei dem man dieselbe Gruppe in verschiedenen Situationen vergleicht. Oder man hat zwei Gruppen, die unterschiedliche Bedingungen erleben. Das wirkliche Leben ist eine "laute" Umgebung, die von unzähligen Faktoren beeinflusst wird, die nichts mit der Studie zu tun haben. Unter diesen Bedingungen ist es nicht einfach, statistisch abgesicherte Aussagen zu treffen. Als Wissenschaftler müssen wir uns der Grenzen und Möglichkeiten dieses "lauten" Umfelds bewusst sein.

Den Energieverbrauch senken, aber die Lebensqualität erhalten: Das klingt für viele wie ein Widerspruch

Marilyne Andersen: Hier können tatsächlich Spannungen entstehen. Ein Beispiel: Wenn bereits dicht besiedelte Gebiete weiter verdichtet werden, spart dies Energie durch effiziente Mobilität, mehr Kompaktheit und bessere Gebäudehüllen. Damit entsteht aber ein Spannungsfeld zu Komfortansprüchen wie ausreichend Tageslicht, gute Luftqualität oder kontrollierter Lärmpegel. Wir arbeiten in einem Forschungsprojekt unseres Konsortiums an Lösungen: Welche Technologien und/oder Verhaltensänderungen können dazu beitragen, dass ein Gebäude besser auf unsere Bedürfnisse eingeht, ohne dass mehr Ressourcen benötigt werden? Wie können Normen oder Standards ihre Aufgabe besser erfüllen, wenn sie dies berücksichtigen?

Joëlle Mastelic: Ich denke, wir können unsere Lebensqualität mit weniger Energie erhalten. Dazu sollten wir zum Beispiel Dienstleistungen zur Optimierung von Heizungsanlagen entwickeln oder Anreize für Unternehmen schaffen, Home-Office-Möglichkeiten anzubieten, um den Pendlerverkehr zu reduzieren. Eines unserer Projekte befasst sich mit der Sanierung eines Genfer Quartiers, in dem sozial benachteiligte Menschen leben. An der Schnittstelle zwischen Technik, Gesellschaft und Wirtschaft wollen wir Sanierungsmethoden entwickeln, die wirtschaftlich machbar und sozialverträglich sind.

Was ist das Besondere an der Arbeitsweise der beiden SWEET-Konsortien?

Joëlle Mastelic: Seit 20 bis 30 Jahren versuchen wir, die Energiewende zu modellieren und künftige Veränderungen im Verhalten und in der Praxis vorherzusagen. Aber leider klappt das nicht, weil wir nicht alle Variablen kennen, die wir brauchen. In unseren Living Labs versuchen wir nun, diese Verhaltensänderungen in Experimenten zu messen.

Marilyne Andersen: Unsere beiden SWEET-Projekte konzentrieren sich speziell auf Living Labs, die es uns ermöglichen, vor Ort mit Gemeinden zusammenzuarbeiten und unsere Forschungsergebnisse konkret in die Praxis umzusetzen. Unsere Projekte haben also einen greifbaren, lokalen und Pilotcharakter in dem Sinne, dass sie als Demonstratoren dienen, die zu echten und positiven Maßnahmen führen sollen.

Joëlle Mastelic: Es gibt ein grosses Netzwerk von Living Labs in der Schweiz und in ganz Europa, in denen unsere Erkenntnisse repliziert werden können. Dadurch können wir die Wirkung unserer Forschung erheblich steigern.

SWEET - "SWiss Energy research for the Energy Transition" - ist ein Forschungsförderungsprogramm des Bundesamtes für Energie (BFE). Ziel von SWEET ist es, Innovationen zu fördern, die wesentlich zur erfolgreichen Umsetzung der Energiestrategie 2050 und zur Erreichung der Klimaziele der Schweiz beitragen.

Interview: Irene Bättig, Sprachwerk GmbH im Auftrag der Geschäftsstelle SWEET, Bundesamt für Energie (BFE)

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