Die Wahrnehmung der staatlichen Aufsicht – Ein Balanceakt zwischen Vorsorgeprinzip, Verhältnismässigkeit und Flexibilität
Marc Kenzelmann, Vizedirektor und Leiter der Abteilung Aufsicht und Sicherheit beim Bundesamt für Energie BFE, verlässt in diesen Tagen das BFE, um Anfang Juli 2020 seine neue Funktion als Direktor des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats ENSI aufzunehmen. Zum Abschied teilt er mit uns seine Gedanken über die Wahrnehmung der staatlichen Aufsicht im Energiebereich.
Bundeskanzler Walter Thurnherr, der frühere Generalsekretär des UVEK, hat das Wesen der Aufsicht sinngemäss einmal folgendermassen charakterisiert: «Aufsicht ist eine schwierige Sache. Da kann man einige Dinge falsch machen, man kann aber auch sehr viel besser machen. Es geht insbesondere um Kommunikation, um das richtige Mass und um den gesunden Menschenverstand. Und das sind keine exakten Wissenschaften.» Dieser Aussage kann ich mich vorbehaltlos anschliessen.
Die Aufsicht darf auch nie das Verantwortlichkeitsprinzip aushebeln: Verantwortlich ist und bleibt der Betreiber einer Anlage.
Die Wahrnehmung von Aufsichtsaufgaben ist ein ständiger Balanceakt zwischen:
- Einhaltung des Vorsorgeprinzips. Die Gesellschaft als Auftraggeber des Staates erwartet zu Recht, dass der Staat alles in seiner Macht tut, um potenzielle Gefährdungen von Mensch, Tieren und Umwelt zu minimieren. Eine unbeaufsichtigte Entität läuft eher Gefahr, ihre Pflichten – unbewusst oder bewusst – zu verletzen als eine Beaufsichtigte. Es geht also darum, die Verantwortlichen bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung zu begleiten, sie bei Bedarf auf ihre Pflicht aufmerksam zu machen und sie im äussersten Fall per Verfügung zur Umsetzung von Massnahmen zu verpflichten.
- Verhältnismässigkeitsprinzip. Die Aufsicht muss nicht nur unabhängig, sachlich kompetent, präzis und immer unvoreingenommen sein. Sie muss auch masshalten können. Ein Übermass an Aufsicht kann beim Betreiber die eigenverantwortliche und überzeugte Wahrnehmung der Pflichten schwächen. Nach dem Motto: Die Aufsicht sagt mir dann schon, wenn etwas nicht gut ist.
- Flexibilität. Prozesse und Methoden der Aufsichtswahrnehmung sind nicht in Stein gemeisselt und dürfen es auch nicht sein. Die Aufsicht muss sich dem Stand von Wissenschaft und Technik, dem Umfeld und der aktuellen Situation anpassen. Aufsicht in einer Krisensituation kann nicht dieselbe sein wie in «normalen Zeiten». Prozesse, Prioritäten und Frequenzen müssen so flexibel wie möglich gehandhabt werden. Dies ist ohne weiteres möglich unter Einhaltung des Vorsorgeprinzips und ohne dabei die Sicherheit zu vernachlässigen!
Seit ich im Herbst 2013 meine Aufgabe als Leiter Aufsicht und Sicherheit im BFE angetreten habe, stelle ich eine schleichende Veränderung der Aufsichtspraxis fest. Früher bewährte sich das Konzept der fachlichen und technischen Diskussionen zwischen Aufsicht und Beaufsichtigten. Meist fand man auf diese Weise sehr gute, sichere und verhältnismässige Lösungen. Heute driften die Beurteilungen zu den Aufgaben der Aufsicht zwischen Behörden und Betreibern immer mehr auseinander. Die Folge davon sind mehr formelle Verfügungen, mehr Beschwerden der Betreiber vor Gericht, mehr Aufwand und verlangsamte Prozesse auf beiden Seiten. Zwar nimmt heute die überwiegende Mehrheit der Betreiber ihre Pflichten immer noch gut und selbstverantwortlich wahr. Doch hat die Fraktion der «Schwierigen» in den letzten Jahren zugenommen. Für uns als Aufsichtsbehörde bedeutet das, diesem Trend entschieden entgegenzutreten, aber dennoch stets die Verhältnismässigkeit zu bewahren.
In dieser Hinsicht kann die derzeitige Krisensituation auch eine grosse Chance sein: Beaufsichtigte und Aufsicht können ihr Business Continuity Management jetzt im «Ernstfall» einem Härtetest unterziehen und es weiter optimieren. Klar ist, dass dabei die Sicherheit unter allen Umständen gewährleistet werden muss. Klar ist aber auch, dass Priorisierungen im Sinne der Verhältnismässigkeit und Flexibilität absolut zwingend sind. Dies bedingt einen sehr engen Austausch und eine gute Abstimmung zwischen allen Beteiligten – und das in kurzer Zeit. Das kann durchaus eine Basis sein, um auch nach der Krisensituation den konstruktiven Dialog fortzuführen, oder dort, wo er in den vergangenen Jahren etwas eingeschlafen ist, wieder zu beleben.
Ich verlasse das BFE in dieser sehr anspruchsvollen Zeit, um die Leitung des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats ENSI zu übernehmen, eines anderen Aufsichtsorgans. Die Herausforderungen werden ähnlich sein, der Gedankenaustausch mit den Aufsichtseinheiten des BFE bleibt für mich wichtig.
Ich danke den Mitarbeitenden meiner Abteilung für ihr professionelles Engagement, ihr Herzblut, ihre Transparenz und auch ihre stetige Bereitschaft, die verschiedenen Ansprüche der Aufsicht – Sicherheit durch Vorsorge, Verhältnismässigkeit und Flexibilität – stets bestmöglich und zum Wohle der Gesellschaft zu vereinen. Alle diese Aspekte zeugen von einer guten Aufsichts- und Sicherheitskultur. Ich habe sehr grossen Respekt für diese Leistung!
Marc Kenzelmann, Vizedirektor, Leiter Aufsicht und Sicherheit
Ein Volk das mit Windstille und Dunkelheit Strom machen will ist nicht zu beneiden.