Die Schweiz und das europäische Stromnetz – Ein Blick zurück und nach vorn


Die Elektrizität ist seit dem 19. Jahrhundert untrennbar mit dem technischen Fortschritt verbunden. Der Hotelier Johannes Badrutt war damals von den technischen Neuerungen derart fasziniert, dass er an der Weltausstellung 1878 in Paris eine elektrische Beleuchtungsanlage kaufte und in der Nähe seines Hotels in St. Moritz ein kleines Wasserkraftwerk bauen liess. 1879 wurde der Speisesaal seines Hotels erstmals mit Glühbirnen erleuchtet. In den 1880er-Jahren errichteten weitere Privatunternehmer elektrische Beleuchtungen in den Schweizer Städten. Um 1900 dienten fast 90 Prozent des in der Schweiz produzierten Stroms der Beleuchtung. Ab 1900 konnten auch Haushalte in den grösseren Schweizer Städten an die lokale Stromversorgung angeschlossen werden. Zunächst versorgten einzelne Kraftwerke nahe gelegene Gebiete, ab 1903 wurden dann mehrere Kraftwerke verbunden.

Nach dem Ersten Weltkrieg begann in der Schweiz der Ausbau der Wasserkraft und die Elektrifizierung des Eisenbahnnetzes. In der Zwischenkriegszeit entwickelten sich umfangreiche Stromnetze. Es entstanden die ersten grossen Wasserkraftwerke in den Bergen, und das Stromnetz wurde ausgebaut, um weiter entfernt liegende Gebiete zu versorgen. Bereits 1920 gab es die ersten Bestrebungen, die Stromleitungen einer einzigen nationalen Dachgesellschaft zu unterstellen. Allerdings scheiterte die Initiative damals am «Kantönligeist». Das Schweizer Stromnetz entstand deshalb zunächst parallel in den verschiedenen Landesteilen. 1937 schlossen sich die Stromnetze der Westschweiz und der Deutschschweiz zusammen, und ab 1950 fand der Zusammenschluss aller Schweizer Stromnetze statt.

Geburtsstunde des europäischen Stromnetzes

Bereits um 1900 wurde der Grundstein für ein länderübergreifendes Stromnetz gelegt, indem das Flusskraftwerk Rheinfelden mit dem Flusskraftwerk Beznau verbunden wurde. Der Schweizer Strom floss nun via Rheinfelden über Deutschland nach Basel. 1912 wurde dann Rheinfelden mit den Flusskraftwerken Augst und Wyhlen und 1914 mit dem Flusskraftwerk Laufenburg vernetzt. Bei der mittelalterlichen Kleinstadt am Rhein ging damals das grösste Flusskraftwerk Europas in Betrieb. Über die «Energiebrücke» bei Laufenburg floss der Schweizer Strom nach Deutschland. Die Exportmöglichkeiten wurden damals beim Bau der grossen Wasserkraftwerke von Anfang eingeplant, damit die Produktionsüberschüsse aus dem Sommer ins Ausland verkauft werden konnten. 1929 bauten die Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE) zusammen mit den Gesellschaften vor Ort eine Fernleitung, welche die Kohlekraftwerke des Ruhrgebiets über Frankfurt am Main, Mannheim, Baden-Württemberg und entlang der Schweizer Grenze bis nach Bürs mit den Wasserkraftwerken in Voralberg zusammenschloss.

In den 1950er-Jahren gelang es den europäischen Ländern das gegenseitige Misstrauen aus den beiden Weltkriegen zu überwinden. 1951 wurde die Union für die Koordinierung der Erzeugung und des Transports elektrischer Energie (UCPTE) gegründet. 1958 wurden in Laufenburg dann die Stromnetze Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz erstmals zusammengeschaltet. Es war das weltweit erste länderübergreifende Stromnetz, das den Austausch von elektrischer Energie zwischen verschiedenen Ländern ermöglichte und damit zur Stabilität und Effizienz des Stromnetzes in der Region beitrug. Durch die internationale Kooperation konnten Stromengpässe in einzelnen Ländern überwunden, Überlastungen vermieden sowie Kraftwerksausfälle oder Überproduktionen kompensiert werden. Dies führte zur besseren Stabilität der Stromnetze und erhöhte die Versorgungssicherheit. Die Sicherstellung der Versorgung der beteiligten Länder erfolgte durch die gegenseitig vertraglich abgesicherte Unterstützung. Das europäische Verbundsystem funktionierte dabei zunächst auf privatrechtlicher Basis.

Das Institute of Electrical and Electronic Engineers mit Sitz in New York hat den in Laufenburg gegründeten internationalen Stromverbund 2010 als einen historischen Meilenstein in der Stromgeschichte gewürdigt. Die Schaltanlage beim «Stern von Laufenburg» habe mit ihrer damaligen Technologie erste weltweite Standards in der Hochspannungstechnik gesetzt. Mittlerweile sind über 30 Länder im europäischen Verbundnetz mit über 530 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten miteinander verbunden. Die Schweiz ist heute durch 41 Grenzleitungen eng mit den Nachbarstaaten verbunden und verfügt über 6’700 Kilometer Höchstspannungsnetz und 250’000 Kilometer Mittel- und Niedrigspannungsnetz.

Um den steigenden Energiebedarf nach dem Zweiten Weltkrieg zu decken, wurden zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren zahlreiche neue Wasserkraftwerke und ab Ende der 1960er-Jahre auch die ersten Kernkraftwerke gebaut. Elektrische Haushaltsgeräte wie Kochherde, Kühlschränke, Tiefkühler, Waschmaschinen, Tumbler, Staubsauger, Bügeleisen, Boiler oder Heizkörper wurden für die breite Bevölkerung erschwinglich. Zwischen 1950 und 1970 verdoppelte sich der Schweizer Stromkonsum. Mit den immer grösser werdenden Kraftwerken an abgelegenen Orten wurden die Stromleitungen immer länger und verzweigter. Die Schweiz sicherte sich die im Winter gefährdete Stromversorgung auch mit Lieferverträgen für Strom aus französischen Kernkraftwerken. Der internationale Stromhandel ermöglichte den Schweizer Stromunternehmen zudem eine weitere wichtige Einnahmequelle.

Verhandlungen zu einem Stromabkommen mit der EU

Die Schweiz ist im Strombereich seit über einem halben Jahrhundert eng mit Europa vernetzt. Seit 2006 übernimmt die Swissgrid AG als nationale Netzgesellschaft wichtige Koordinations- und Überwachungsaufgaben für ganz Europa. Im Auftrag von ENTSO-E, dem Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber, übernimmt die Swissgrid AG heute als Koordinationszentrum für Südeuropa eine zentrale Rolle, um das europäische Netz im Gleichgewicht zu halten. Über die Alpen verbindet das Schweizer Stromnetz den Norden mit dem Süden Europas. Die Alpen sind mit den Speicherkraftwerken ein wichtiger Energiespeicher, der ebenfalls zur Stabilität des europäischen Stromnetzes beiträgt.

Die EU baut seit den 1990er-Jahren einen integrierten Strombinnenmarkt auf. Ausgehend von Transitrichtlinien hat die EU mit drei Binnenmarktpaketen und dem sogenannten Clean Energy Package von 2019 ein detailliertes Regelwerk mit gemeinsamen Vorschriften für den europäischen Strommarkt geschaffen. Früher haben vertikal integrierte – das heisst Netze, Produktion und Handel umfassende –  Monopolbetriebe über die UCTPE inkl. der Schweiz den grenzüberschreitenden Handel auf privatrechlicher Basis organisiert. Heute passiert das über Akteure, Rollen und Prozesse, die EU-rechtlich klar definiert sind. Den Schweizer Akteuren fehlt diese EU-rechtliche Basis. Dadurch müssen für den Betrieb der Übertragungsnetze und den grenzüberschreitenden Stromhandel, parallel zu den gemeinsamen Regeln in der EU, separate Regeln zum Umgang mit der Schweiz definiert werden. Dies ist einerseits zeitaufwändig und kostenintensiv. Andererseits besteht in zunehmender Weise das Risiko, dass optimale Lösungen für die Schweiz nicht oder nicht rechtzeitig gefunden werden.

Seit 2007 verhandelt die Schweiz mit der EU über ein Stromabkommen. Ein solches Abkommen sichert die Einbindung der Schweiz in das europäische Stromsystem (völker-)rechtlich ab und leistet damit einen wichtigen Beitrag für die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit. Gleichzeitig vereinfacht ein Stromabkommen den Stromaustausch mit den Nachbarstaaten und der EU. Dies erlaubt es, mit der hohen Flexibilität der Schweizer Wasserkraft einen Beitrag zu einem stabilen europäischen Stromsystem zu leisten und diese auf den europäischen Märkten optimal in Wert zu setzen. Ohne Stromabkommen wird es immer teurer und schwieriger, die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit sicherzustellen, weil die EU die Schweiz zunehmend von technischen Kooperationen und Plattformen ausschliesst. Die ungeplanten Stromflüsse durch die Schweiz nehmen zu. Die Swissgrid AG muss in diesen Fällen immer öfters eingreifen und Strom für die Stabilisierung des Netzes einsetzen. Dieser fehlt dann für die Versorgung der Konsumentinnen und Konsumenten.

Beim Stromabkommen mit der EU geht es um den Zugang zum EU-Strombinnenmarkt, der Vereinfachung des grenzüberschreitenden Handels und der Integration und Mitsprache der Schweizer Akteure bei der Gestaltung des europäischen Stromsystems. Die Schweiz und die EU teilen das Ziel, ihre Energiesysteme bis 2050 zu dekarbonisieren, was mit einer weitgehenden Elektrifizierung über Elektromobilität und Wärmepumpen und einem massiven Ausbau an erneuerbaren Energien einhergeht. Der grenzüberschreitende Stromaustausch wird stark zunehmen, beispielsweise durch den Ausgleich von Offshore-Windkraft aus der Nordsee und Photovoltaik-Strom aus Spanien über die flexible Wasserkraft in den Alpen. Ein Stromabkommen mit der EU ist die Grundlage für diesen intensivierten Austausch und vereinfacht damit die Energiezukunft der Schweiz wie in der EU.

Christian Bühlmann, Fachspezialist und stellvertretender Leiter Internationales, Bundesamt für Energie
Michael Fischer, Fachspezialist Bundesrats- und Parlamentsgeschäfte, Bundesamt für Energie
Bild: Shutterstock;
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